Russen an Bord der Titanic

Tiefsee-Forscher Anatoli Sagalewitsch. Foto: ITAR-TASS

Tiefsee-Forscher Anatoli Sagalewitsch. Foto: ITAR-TASS

Tiefsee-Forscher Anatoli Sagalewitsch unternahm mehr als 50 Tauchgänge zum Wrack der Titanic.

Am 15. April 1912 erschütterte die Nachricht vom Untergang der Titanic die Welt. Der berühmteste Eisberg der Schifffahrtsgeschichte riss ein gewaltiges Leck in den Rumpf des seinerzeit größten und nach dem letzte Stand von Wissenschaft und Technik gebauten Passagierdampfers Titanic. Innerhalb weniger Stunden sank der gigantische Luxusdampfer und riss über 1 500 Menschen in den Tod. Der Ozeanriese zerbarst in mehrere Teile und liegt seither in 3 800 Metern Tiefe auf dem Meeresgrund. Das Wrack wurde 1985 entdeckt und ist seitdem Ziel vieler Expeditionen. Ausgerechnet Russen tauchten so oft wie niemand sonst zur Titanic. Grund dafür sind die russischen Tiefsee-Boote "Mir 1" und "Mir 2", die zu den wenigen Apparaturen gehören, die dem Druck in dieser Tiefe standhalten. Zu ihrer Besatzung gehört Anatolij Sagalewitsch. Mit ihm sprach exklusiv für "Russland heute" Ilja Stulow.

Herr Sagalewitsch, Sie haben die Stelle im Atlantik, wo der legendäre Ozeandampfer unterging, mehr als 50 mal erkundet. Erinnern Sie sich noch an Ihren allerersten Eindruck vom Wrack der Titanic?

So etwas vergisst man wohl kaum. Es war im Juli 1991, wir haben damals an Stephen Lows Dokumentarfilm „Titanica“ mitgearbeitet. Er hatte sich auf der ganzen Welt nach einem Tiefsee-U-Boot umgeschaut, das für seinen Film die Vor-Ort-Aufnahmen machen konnte. Weil wir Russen ihm mit den Zwillingsbooten "Mir 1" und "Mir 2" die besten Tiefseeapparate bieten konnten, kriegten wir den Job.

Was ich damals auf dem Grund des Atlantiks zu sehen bekam, hat mich stark beeindruckt und zugleich erschüttert. Bis heute begleiten mich bei jedem Tauchgang zum Wrack der Titanic immer noch ähnliche Empfindungen. Die beiden Haupteile des gewaltigen Schiffskörpers liegen ungefähr eine halbe Meile voneinander entfernt. Der Boden dazwischen ist übersät mit verschiedenen Gegenständen und Artefakten. Der erste Tauchgang führte uns zum Bugteil der Titanic. Man konnte gleich die Spitze des abgebrochenen Schiffsmasts erkennen, mit dem verbogenen „Krähennest“, dem Mastkorb des Ausguckpostens. Im aufgerissenen Laderaum waren die vom Meerwasser skelettierten Autos zu erkennen, die offenbar reichen Passagieren gehört hatten. Auf der Steuerbord-Seite des Schaluppendecks, war durch die aufgerissene Bordwand das Innere der Kajüte von Kapitän Edward J. Smith zu sehen, sein Badezimmer, sogar sein Bett.

Ich habe in meinem Leben schon so manches Wrack auf dem Meeresboden gesehen. Aber die Titanic sehe ich mit Schaudern. Sie ist tatsächlich die Verkörperung einer großen menschlichen Heimsuchung, die Summe aus vielen hundert Tragödien der Passagiere. Am Abend des 14. April 1912 hatte es niemand für möglich gehalten, dass diesem supermodernen Ozeanliner auch nur die geringste Gefahr droht. Schließlich galt er als unsinkbar! Doch die Jungfernfahrt, bei der auch der Erbauer des Schiffes mit an Bord war, wurde für die Titanic zur letzten Reise. Die Zivilisation zahlte für ihre Selbstgewissheit.

In welchem Zustand befindet sich das Wrack des Luxusliners heute?

Das letzte Mal sind wir 2005 zur Titanic abgetaucht. Den Deckaufbauten setzen Meer und Zeit natürlich zu.  Der Zustand des Schiffskörpers kann als weitaus besser bezeichnet werden, der Rumpf ist gut erhalten. Das Einzige, was sich in der Unterwasserszenerie ganz auffällig verändert, sind die Täfelchen, die Taucher hinterlassen. Die erste Tafel brachte Robert Ballard an, der 1985 die genauen Positionsdaten der Unglücksstelle bestimmte und im August 1986 mit dem Forschungs-U-Boot "Alvin" die erste bemannte Erkundungsfahrt durchführte.  Täfelchen zu hinterlassen ist jetzt bei allen Tiefseetauchern zur Tradition geworden.

Sie haben nicht nur bei Stephen Lows Dokumentarfilm „Titanica“ mitgearbeitet, sondern auch bei James Camerons Blockbuster „Titanic“. Wie kam es dazu?

Ich habe Jim Cameron bei der Premiere von „Titanica“ im April 1992 kennengelernt. Er war so fasziniert vom Untergang der "Königin der Meere", dass er spontan die Idee hatte, einen Spielfilm über diese große Schiffskatastrophe zu drehen. Jim wollte auch gleich unsere Tauchapparate sehen, mit denen wir die einzigartigen Unterwasserbilder aufgenommen hatten. Das ging natürlich nicht über Nacht. Aber schon ein paar Monate später kam er nach Russland und inspizierte sowohl unser ozeanographisches Forschungsschiff „Akademik Mstislaw Keldysch“ und unsere beiden baugleichen Tauchkapseln "Mir 1" und "Mir 2". Das bestärkte ihn in, einen Film über den Untergang der Titanic zu drehen.

Doch noch bedrückten ihn Zweifel. Authentische Unterwasseraufnahmen waren das Eine, aber sie würden nicht genügen, um ein Filmepos zu drehen. Was er brauchte, war ein Sujet, eine gute, fesselnde Story. Aber damals hatte er nicht einmal eine leise Idee dafür. Ich, als Mensch, der den politischen Umbruch der Epoche im eigenen Land gerade durchlitt, riet ihm: Die Welt hat genug von Blut und Gewalt, von Härte und schnöder Alltagshektik. Zeig Schönes, Heroisches. Zeige zwischenmenschliche Beziehungen, bring eine Love Story auf die Leinwand! „Was heißt Liebe, Tolja?“, fragte Cameron. Ich überlegte eine Weile und antwortete: „Liebe, das ist Höhenflug!“

Jim flog zurück nach Amerika, von Zeit zu Zeit sendeten wir uns Faxe. Dann, zwei Jahre später rief mich Cameron an: „Tolja, die Würfel sind gefallen, wir drehen. Und Du bist dabei!“ Welche Bedeutung unsere Diskussion für die Handlung des Filmes hatte, wissen Sie nun.

Wie ging es weiter? Konnten Sie einfach loslegen?

Laien meinen, dass man nur in einen bestimmten Gewässerabschnitt zu fahren braucht, um an einem konkreten Ort zu tauchen und dort seine Bilder zu schießen beziehungsweise Filme zu drehen. Aber das gar nicht so einfach. Um den Tauchgang ordentlich vorzubereiten und qualitativ hochwertiges Bildmaterial zu liefern, muss eine ganze Reihe von Vorbereitungen getroffen werden. Denn ein Tauchgang dauert inklusive Abtauchen und Auftauchen mehrere Stunden. Aber für das reine Arbeiten vor Ort steht nur ein begrenzter Zeitraum zur Verfügung. Zudem herrscht in den Tauchapparaten Enge. Da muss jeder Handgriff sitzen.

Hinzu kam in unserem Fall, dass wir nur für wenige Minuten Filmreserven in der Kamera hatten. Deshalb wurde eigens für dieses Projekt die Panavision-Kamera umkonstruiert. Kodak entwickelte speziell für Cameron einen neuen Film, der dreimal dünner war als die herkömmlichen. Wir hatten die beste Kamera der Welt, doch unter den extremen Tiefseebedingungen konnte sie gerade einmal 20 Minuten am Stück arbeiten. Auch musste bei den Aufnahmen für Camerons Titanic-Film alles möglichst schnell, aber zuverlässig ablaufen.

Wie liefen die Vorbereitungen auf den Tauchgang ab?

Vor dem realen Tauchgang haben wir Kamerafahrten mit den beiden Tiefseeapparaten "Mir 1" und "Mir 2" an Bord unseres Mutterschiffs „Akademik Mstislaw Keldysch“, das dem Institut für Ozeanographie der Russischen Akademie der Wissenschaften gehört, simuliert. Doch selbst bei der allerbesten Absprache und Vorbereitung über Wasser birgt die Unterwasserwelt noch jede Menge Gefahren und Überraschungen. Plötzlich gibt es starke Strömungen, trübe Sicht oder Schlick, die zu Improvisationen zwingen. Aber Cameron ist ein technikbesessener Perfektionist...

Hat ihnen James Cameron das Leben schwer gemacht? War er  mit Ihnen zusammen am berühmtesten Wrack der Welt?

Er war jedes Mal mit von der Partie. Das war sehr anstrengend. In den 19 Tagen des ersten Expeditionsabschnitts haben wir 12 gemeinsame Tauchgänge absolviert. Anfangs wollte Jim nur 8 Szenen für seinen zukünftigen Film abdrehen, am Ende sind mehr als 30 herausgekommen. Doch auch unter Wasser hat Jim Cameron voller Einsatz und Hingabe gearbeitet. Obwohl die Temperaturen in der Tauchkapsel unter Tiefsee-Bedingungen nicht über zwölf Grad Celsius hinauskommen, waren wir mit derartigem Feuereifer bei der Sache, dass wir uns beim Auftauchen, wenn wir die Szene im Kasten hatten, den Schweiß vom Gesicht abwischten.

Hat James Cameron bei den Unterwasser-Dreharbeiten für seinen Kinohit „Titanic“ Blut geleckt?

Auf jeden Fall. Cameron hat mit unserem Unterwasserteam noch einige populärwissenschaftliche Filme gedreht. Er kannte unsere Mir-Kapseln aus dem Effeff und wollte ein noch besseres U-Boot bauen. Das hat er denn auch geschafft und ist vor vier Wochen, am 26. März 2012, zum tiefsten Punkt des Weltmeers getaucht. Der Star-Regisseur ist damit nach Piccard und Walch, die schon 1960 dort waren, der dritte Mensch, der den Grund des Marianengrabens berührt hat. Er musste 12 Millionen Dollar in den Bau seines "Deepsea Challengers" stecken, damit der Apparat innerhalb von acht Jahren in Australien fertiggestellt werden konnte.

Werden die russischen Tauchboote nun nicht mehr gebraucht?

Wohl kaum. Camerons "Deepsea Challenger" kann zwar bis in Tiefen von 11 000 Meter vorstoßen. Aber es bleibt ein enges Tauchboot für eine Person. Stellen Sie sich diese gerade mal einen Meter breite Kapsel einmal vor! Kann man darin arbeiten? Noch dazu mehrere Stunden lang? Die "Mir"-Tauchboote sind und bleiben unübertroffen im Hinblick auf eine ganze Reihe technischer Parameter und kommen auch bis 6 000 Meter Tiefe.

Auch wenn China die Erprobung eines Tiefseegeräts intensiv vorantreibt und Amerika letzte Hand an das supermoderne Tauchboot "Alvin 2.0" legt, werden wir ganz sicher nicht arbeitslos. Wir Tiefseetaucher sind eine seltene Spezies. Wenn schon von Alarmsignalen die Rede ist, dann kommen die aus einer anderen Richtung.

Alarmsignale? Was meinen Sie damit?

Kürzlich haben die russischen Behörden entschieden, was wir praktizieren, sei nichts anderes als die Vermengung von wissenschaftlicher Forschung mit Kommerz. Nun, es ist kein Geheimnis, dass wir einige Jahre lang wohlhabende Abenteurer zum Wrack der Titanic brachten, während wir unsere Meeresforschung betrieben. Doch ohne das Geld der "Unterwassertouristen" hätte der Stolz der russischen Ozeanographie nicht so häufig auslaufen können.

Über zwanzig Jahre lang hat sich das Mir-Projekt auf diese Weise selbst getragen. Wir haben die Teams unterhalten, die Geräte gewartet, die Funktionstüchtigkeit des Versorgungsschiffs und der Tauchboote gewährleistet. Und das alles aus den bei Expeditionen verdienten Mitteln. Wobei anzumerken ist, dass das Monatsgehalt eines "Mir"-Tauchbootpiloten ganze 500 Dollar beträgt. Obendrein sind wir von jeder Reise mit unschätzbaren wissenschaftlichem Material zurückgekommen. Die Ergebnisse unserer Forschungen fanden ihren Niederschlag in 16 Monographien und über 800 Artikeln in internationalen Zeitschriften.

Jetzt sollen bei uns andere Spielregeln gelten. Die Behörden wollen die Anmietung der Tauchflottille ausschreiben. Was soll das? Denn solange kein Interessent in Sicht ist, sind unsere Forschungsprogramme gefährdet. Das Mutterschiff für den Einsatz unserer Tiefsee-Tauchboote, die „Akademik Mstislaw Keldysch“, liegt aus ebensolchen neumodischen kommerziellen Gründen bereits das dritte Jahr in Murmansk vor Anker und rostet vor sich hin. Gerade mal einen Monat pro Saison kommt es zum Einsatz. Die Plattform für die beiden Mir-Tauchboote ist so heruntergekommen, dass es mindestens 360 000 Dollar kostet, sie wieder herzurichten. Doch kein potentieller Interessent wird jetzt auch nur eine einzige Kopeke investieren, bevor er kann nicht die Ausschreibung in der Tasche hat.

Dieser Tage jährt sich der Untergang der Titanic zum einhundertsten Mal. Planen Sie in diesem Jahr eine weitere Expedition zum Unglücksort?

 Alles hängt davon ab, wie schnell die Beamten der Moskauer Behörde für Vermögensverwaltung sowie der Föderalen Agentur für die Verwaltung des staatlichen Vermögens die Auktionen vorbereiten. Unsere deutschen Partner würden gern mit den beiden "Mir"-Tiefseebooten zum Wrack der Titanic tauchen und nochmals einen Tauchgang zur "Bismarck" organisieren, dem im Mai 1941 von britischen Zerstörern versenkten größten deutschen Schlachtschiff. Die Auktion wird aber frühestens in zwei Monaten stattfinden. Danach muss die Expedition noch gründlich vorbereitet werden. Deshalb ist noch offen, ob wir es schaffen, in diesem Jahr wieder in den Westatlantik auszulaufen.

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