Stalins „Sieben Schwestern“: Das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität von der Größe einer Stadt

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Was inspirierte die Architekten des höchsten der sieben stalinistischen Wolkenkratzer? Warum wurde er von Gefangenen gebaut? Kann man das Gebäude heute noch betreten? Lesen Sie weiter und finden Sie es heraus!

Adresse: Leninskije Gory 1. Nächste U-Bahn-Stationen: Universitet, Worobjowy Gory.

Baujahre: 1949-1953

Was befindet sich dort?: Das Hauptgebäude der Moskauer Staatlichen Universität (auch bekannt als Lomonossow-Universität) beherbergt heute die Fachbereiche Geologie, Mechanik, Mathematik und Geografie sowie das Rektorat, die wissenschaftliche Bibliothek, das Museum für physikalische Geographie, den Kulturpalast und Wohnheime für Studenten und Professoren.

Warum wurde es errichtet?

Das Hochhaus an den Leninskije Gory (dt.: Leninberge) (heute Worobjowy Gory, dt.: Sperlingsberge) war eines der acht geplanten Hochhäuser im Rahmen des Wiederaufbaus Moskaus, von denen allerdings nur sieben gebaut wurden. Laut einem Dekret von 1947 war es Stalins Idee (oder so wollte man es zumindest darstellen), Wolkenkratzer zu bauen.

Allerdings war das Gebäude ursprünglich für ein Hotel und Wohnungen geplant. Im März 1948 wurde jedoch beschlossen, die Moskauer Staatsuniversität (MGU) in dieses Gebäude zu verlegen, da die Universität schon lange neue Räumlichkeiten benötigte.

Fast alle Berechnungen für das MGU-Hauptgebäude wurden von Grund auf neu erstellt: Zu dieser Zeit hatte die Sowjetunion so gut wie keine erfolgreiche Erfahrung mit dem Bau von Wolkenkratzern. Sie beschränkte sich lediglich auf den Entwurf des gigantischen Palastes der Sowjets, der nie gebaut wurde. Unter den Bedingungen der Planwirtschaft, in der alles, bis hin zu Steckdosen und Türklinken, geplant, genehmigt und vorbestellt werden musste, war der Bau eines so gewaltigen Projekts in nur vier Jahren gelinde gesagt eine ehrgeizige Aufgabe. Aber der Bau stand unter Stalins persönlicher Kontrolle (er kam sogar auf die Baustelle), so dass ein Scheitern unmöglich war.

In jenen Jahren schrieb die Presse, dass das Gebäude vom ganzen Land gebaut wurde: Der Marmor wurde aus dem Ural transportiert, die Beleuchtungskörper kamen aus Riga, das Metall aus der Ukraine, und so weiter. Insgesamt waren etwa 10.000 Menschen mit dem Bau beschäftigt, nicht eingerechnet die 2.500 Verwaltungs- und technischen Mitarbeiter und mehr als 1.000 Ingenieure. Neben den engagierten Komsomolzen und einfachen Arbeitern waren auch Häftlinge aus den Arbeitslagern am Bau beteiligt, deren Zahl zeitweise die Hälfte der Gesamtbeteiligten ausmachte. Es gibt keine Informationen über Fälle, in denen Häftlingen die Flucht gelang. Zum einen wurden sie von mehreren tausend Soldaten bewacht. Zum anderen wussten alle, dass sie nach der Fertigstellung des Gebäudes amnestiert werden sollten. Und so geschah es dann auch.

Beim Bau wurden keine Kosten gescheut. Das Gebäude der Staatlichen Universität Moskau mit seinen Säulen, Stuck und Mosaiken kostete das Land 2.631.200.000 sowjetische Rubel. Diese Summe hätte ausgereicht, um eine kleine Stadt mit fünfstöckigen Plattenbauten für 40.000 Menschen zu bauen.

Am 1. September 1953 wurde das Gebäude zum Beginn des neuen Studienjahres eingeweiht. Wie bei allen der Sieben Schwestern geschah dies nach dem Tod von Stalin am 5. März 1953. Bald darauf begann der neue Erste Sekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow seinen Kampf gegen den stalinistischen Klassizismus in der Architektur.

Warum sieht das Gebäude so aus?

Mit seinen 183,2 Metern ist es der höchste der sieben stalinistischen Wolkenkratzer in Moskau (zusammen mit der Turmspitze erreicht es 235 Meter). Das 36-stöckige Hauptgebäude der Universität ist von vier 18-stöckigen Türmen umgeben. Fast 40 Jahre lang war es das höchste Gebäude in Europa. Erst 1990 wurde es vom Frankfurter Messeturm übertroffen.

Dieser Hochbau wurde zum Denkmal des sowjetischen Gigantismus. Mit der Zentralisierung aller Macht in den Händen Stalins entstand auch der Wunsch nach einer Architektur, die die Größe des „Vaters der Völker“ und des mit ihm blühenden Staates widerspiegeln sollte. Dies sollte auch die Idee des sowjetischen Triumphs in allen Lebensbereichen nach dem Zweiten Weltkrieg symbolisieren.

Es wird angenommen, dass die amerikanischen Art-Déco-Wolkenkratzer der Prototyp für dieses und andere der Sieben Schwestern waren. Die Architekten dieser Wolkenkratzer selbst dementierten jedoch jegliche Parallelen zur amerikanischen Architektur kategorisch. In den Memoiren eines von ihnen, Dmitrij Tschetschulin, war die russische mittelalterliche Hochhausarchitektur – Glocken- und Festungstürme – das Vorbild.

Wer ist der Architekt?

Der Chefarchitekt des ersten Bauprojekts war Boris Iofan, Autor des nicht realisierten Projekts des Palastes der Sowjets. Kurz vor Baubeginn des Universitätsgebäude wurde er jedoch von seinem Posten entfernt und durch Lew Rudnew ersetzt.

Boris Iofan

Der Grund dafür war Iofans Unnachgiebigkeit: Er hatte vor, dieses Hochhaus direkt am Hang der Sperlingsberge zu bauen - so dass eine große Treppe das Gebäude mit dem Ufer der Moskwa verbinden sollte. Nach seinem Plan hätte dies die Herrlichkeit des Gebäudes noch weiter unterstrichen. Dafür war Iofan bereit, die Risiken einzugehen, die mit dem schwierigen Boden am Rande des Hügels verbunden waren. Er weigerte sich, den Standort zu ändern.

Lew Rudnew erwies sich als flexibler und verlegte den Bau 800 Meter vom Ufer weg.

Wofür ist es bemerkenswert?

Das MGU-Gebäude wurde zu einem „Testgelände“ für eine Reihe neuer Bautechnologien. Sie ermöglichten es, solche großen Gebäuden unter ungünstigen Bodenverhältnissen zu errichten. Der Schöpfer dieser Technologien, Nikolai Nikitin, entwarf später ein weiteres Moskauer Wahrzeichen – den 540 Meter hohen Fernsehturm Ostankino.

Außerdem gehörte zu einer der Herausforderungen die Aufgabe, in einem einzigen Gebäude eine Kleinstadt für 10.000 Menschen zu schaffen. Somit wurde der MGU-Komplex der erste sowjetische Universitätscampus. Auf seinem Gelände befand sich die gesamte für Studenten notwendige Infrastruktur – Wohnheime, Bibliotheken, ein Post- und ein Telegrafenamt, Läden, Kantinen, ein Schwimmbad und vieles mehr. Die Studenten konnten dort buchstäblich leben, ohne das Gelände bis zum Ende des Studienjahres zu verlassen.

Schon in der Planungsphase wurde klar, dass das Hochhaus für viele Fachbereiche, die mit den exakten Wissenschaften zu tun haben, wenig nützlich sein würde: Der Fachbereich Chemie beispielsweise benötigte eine separate Belüftung und Entwässerung, während der Fachbereich Physik ein niedriges Gebäude mit einem angemessenen Fundament für präzise Messungen benötigte usw. Deswegen blieben im riesigen Gebäude viele leere Räume. Sie wurden deshalb in Museen, Studentenwohnheime und Wohnungen für Professoren umgewandelt. Die Notwendigkeit von Studentenwohnheimen wurde mit der Absicht begründet, Studium und Privatleben der Studenten untrennbar miteinander zu verbinden.

Wie man heute in das Gebäude kommt

Der Zutritt zum Gebäude ist beschränkt - man benötigt dafür eine Genehmigung. Studenten oder Professoren der MGU können Sie jedoch anmelden, und Sie erhalten einen Gästeausweis. Die Studentenzimmer sind sehr klein, einige verfügen noch über die Originalmöbel von damals, und aus einigen der Fenster bietet sich ein atemberaubender Blick auf Moskau.

Eine weitere Möglichkeit, das Gebäude zu besuchen, ist eine Führung durch das Museum für physikalische Geographie der Universität. Dort gibt es unter anderem eine einzigartige Sammlung von Mineralien und Meteoriten zu sehen. Allerdings muss man sich eineinhalb Monate im Voraus anmelden, und es sind nur Mitglieder von Bildungsgruppen zugelassen. Einzelbesucher haben keinen Zutritt.

Schließlich kann jeder den Wolkenkratzer auch von außen bewundern. Das gut gepflegte Gelände ist in der Regel menschenleer und für jedermann zugänglich. Sie können das Gelände zu Fuß oder mit dem Fahrrad erkunden.

>>> Architekturerbe: Stalins „sieben Schwestern“ und deren ausländische „Verwandten“

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