Zu Tode geärgert?
An die offizielle Version eines plötzlichen, aber natürlichen Todes an jenem 5. März 1953 glaubt verständlicherweise kaum jemand. Der Historiker Gennadij Kostyrtschenko beispielsweise erinnert an die Aussage des späteren Sowjetführers Nikita Chruschtschjow 1956 gegenüber einem französischen Journalisten, wonach Stalin nach einem heftigen Wortwechsel mit einer Gruppe hochrangiger Parteigenossen einen Schlaganfall erlitten haben soll. In dem Streit drohten die Genossen ihrem Staatschef demnach mit einer Revolte und womöglich sogar physischen Angriffen.
Unzufrieden seien sie vor allem mit den Plänen Stalins gewesen, die sowjetischen Juden im fernen Sibirien anzusiedeln, so Chruschtschjow. Zumal jenes Ansinnen zeitlich etwa mit der sogenannten Ärzteverschwörung zusammenfiel: Ende 1952 hatte Stalin ein angebliches Komplott hochrangiger, vorwiegend jüdischer Mediziner gegen sich gewittert, infolge dessen Aufdeckung zahlreiche Ärzte verhaftet und hingerichtet wurden.
Und Chruschtschjow war nicht der einzige, der sich an eine solche Szene erinnern haben will. Laut Kostyrtschenko sprach auch der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg gegenüber dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre in zahlreichen Details, dass sich Stalin, dessen Pläne eine heftige Gegenreaktion hervorriefen, sich wirklich bereits von seinen Untergebenen bedroht fühlte.
Angeblich hätten ihm jene bereits mit einem Putsch gedroht: die Armee gegen ihn aufzubringen, wenn er nicht von der Umsiedlung der Juden in den Fernen Osten absehen würde. Einer dieser innerparteilichen Gegner, selbst ein Jude, soll dem Sowjetführer gar persönlich sein Parteibuch ins Gesicht geworfen haben. Erschreckt von so viel Mut und Aufruhr, habe Stalin dann einen Schlaganfall erlitten.
ABER: Diese Version gilt Historikern zufolge wenig wahrscheinlich, da weder in Stalins persönlichen noch den Parteiarchiven keinerlei Pläne zur Deportation der Juden gefunden werden konnten. Außerdem ist bis heute unklar, warum Chruschtschjow diesen Streit überhaupt noch einmal ansprach: Zumal nicht einmal in seinen Memoiren, die in den 70ern im Westen herausgegeben wurden, Bezug auf einen solchen angeblichen Streit genommen wurde. Womöglich wollte sich Stalins Nachfolger an der Staatsspitze damit einfach selbst zusätzlich hervorheben und legitimieren.
Der Mann mit der Axt
Eine andere Theorie sieht in Chruschtschjow derweil nicht nur einen bis dato rebellischen Untergebenen Stalins, sondern gar den Hauptarchitekten des Mordes an dem Sowjetführer. So habe Chruschtschjow im Juli 1964 bei der Begrüßung der ungarischen Delegation auf einer öffentlichen Veranstaltung plötzlich begonnen, über Stalin zu sprechen: „Es gab viele brutale Diktatoren in der Geschichte der Menschheit, aber sie alle starben ebenso durch die Axt, wie sie zuvor ihre Herrschaft mit der Axt aufbauten.“ In den sowjetischen Zeitungen wurde diese Stelle aus Chruschtschjows Rede natürlich herausgekürzt.
Der Geschichtswissenschaftler Alexander Dugin sieht in Chruschtschjow persönlich den Mann mit der Axt. Dugin zufolge hat Stalin sowohl seinen Minister für Staatssicherheit, Semjon Ignatjew, als auch Chruschtschjow entlassen wollen. Jene aber seien ihm zuvorgekommen: Um ihren Mord an Stalin zu decken, hätten sie bewusst auch noch Lawrentij Berija, den mächtigen Kopf der sowjetischen Geheimpolizei, getötet.
Vergiftet vom Geheimpolizeichef
Jener Berija wiederum ist auch selbst Protagonist von Verschwörungstheorien rund um Stalins Tod. Als zweitmächtigste Person im Staat könnte sich Berija vor einer neuen Säuberungswelle gefürchtet haben, die womöglich auch ihn erfassen könnte. Ist Berija dem zuvorgekommen?
Der Historiker Nikolaj Dobrjucha schreib in seinem Buch “Wie Stalin getötet wurde”, dass Berija den Staatschef vergiftet haben müsse. Dazu habe er seltenes Schlangen- oder Spinnengift benutzt. Dobrjucha führt als Argument Aussagen von Stalins langjährigen Außenminister Wjatscheslaw Molotow an, wonach Berija nach Stalins Ableben einmal stolz behauptet habe, er sei es ja gewesen, der letztlich „euch alle vor Stalin gerettet“ habe.
Die Rätsel und Verschwörungstheorien um Stalins Tod werden wohl auch in den nächsten Jahren nicht an Interesse verlieren.
ABER eines ist faktisch belegt: Als die Parteigenossen vom Schlaganfall Stalins erfuhren, beeilte sich niemand, doch schnell noch einen Arzt zu holen. Außerdem ist der Ort des Todes umstritten. Offiziell heißt es, er im Kreml einen Herzschlag erlitten. Dabei wurde er doch auf seiner Datsche aufgefunden. Und da auch in den medizinischen Protokollen noch Widersprüche offen sind, wird Stalins Tod wohl noch einige Zeit seine Rätselhaftigkeit und Mystik behalten.