Absurd, bizarr, perfide: Zensur in der Sowjetunion

Peasants reading a newspaper which published Lenin's decrees on land and on peace. 06/10/1918

Peasants reading a newspaper which published Lenin's decrees on land and on peace. 06/10/1918

RIA Novosti
Andersdenkende ausschalten, Bücher indizieren, Bilder retuschieren, Hörfunksender stören und Kunstausstellungen mit Bulldozern niederwalzen – das Repertoire der Sowjetführung im Umgang mit Kritikern und unliebsamen Informationen war ebenso groß wie einfältig.

Staatliches Komitee für Fernsehen und Rundfunk der UdSSR, 1973 /  Lev Nosov/RIA NovostiStaatliches Komitee für Fernsehen und Rundfunk der UdSSR, 1973 / Lev Nosov/RIA Novosti

Obwohl ihr erklärtes Ziel die Freiheit der Massen war, verboten die Bolschewiki als erste Amtshandlung nach der Machtübernahme im Oktober 1917 der Presse den Mund. Schon im November desselben Jahres verbannte die junge Sowjetführung per Dekret „bourgeoise Inhalte“ und Kritik an den neuen Machthabern aus russischen Zeitungen.

Unter Joseph Stalin wuchs die Zensur ins Absurde. Nach dem Tod des Diktators lockerte der Sowjetstaat die Zügel zwar, gänzlich jedoch verschwand die Rede- und Publikationskontrolle erst unter Michail Gorbatschow, nachdem dieser in den Achtzigerjahren die Glasnost (Offenheit, Transparenz) verkündet hatte.

Wenn Politiker in Ungnade fielen…

Menschen lesen Zeitungen, 1918 / RIA NovostiMenschen lesen Zeitungen, 1918 / RIA Novosti

Die Zensur in der Sowjetunion diene doch nur dem Wohl der werktätigen Bevölkerung, lautete die offizielle Sprachregelung der Sowjetführung. Und deshalb habe sie „einen anderen Charakter als die Zensur in bourgeoisen Ländern“, hieß es in der Großen Sowjetenzyklopädie, dem Wikipedia der Sowjetzeit.

Dies war allerdings eine ziemlich dreiste Behauptung. Denn die Führung der UdSSR scheute vor keiner noch so perfiden Zensur zurück, um Kritiker oder einfach politische Gegner auszuschalten.

„Auf die physische Vernichtung der politischen Opponenten Stalins folgte deren Auslöschung aus allen Formen bildlicher Existenz“, schrieb der britische Historiker David King in seinem Buch „Der Kommissar verschwindet“ über die Säuberungen in der Stalin-Ära.

Die Zensoren hatten beide Hände voll zu tun, um in Missgunst gefallene Politiker von Bildern und Fotos zu entfernen. Selbst die Drahtzieher und Organisatoren der Repressionen in den Jahren 1936-38 fielen ihnen zum Opfer – so auch Nikolai Jeschow, damals Chef des NKWD, der Vorgängerbehörde des KGB (Komitee für Staatssicherheit).

Jeschow hatte sich mit Stalin überworfen, fiel 1940 der Geheimpolizei in die Hände und wurde kurz darauf erschossen. Danach verschwand er von allen Fotos, auf denen er mit Stalin abgelichtet worden war.

Das Gleiche geschah auch mit Jeschows Nachfolger, dem berüchtigten NKWD-Chef Lawrenti Beria. Als einer der engsten Verbündeten Stalins fiel er nach dessen Tod bei den neuen Machthabern in Ungnade und wurde ebenfalls erschossen. Danach forderte die Sowjetführung ihr Volk nachdrücklich auf, alle alten Sowjetenzyklopädien gegen eine neue Version des Nachschlagewerks auszutauschen, in der es keinen Eintrag zu Beria gab.

Unerwünschte Bücher im Selbstverlag

Treffen der St.-Petersburger Union für den Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse, Februar 1897. / Nadezhda Konstantinovna KrupskayaTreffen der St.-Petersburger Union für den Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse, Februar 1897. / Nadezhda Konstantinovna Krupskaya

1921 gründete der junge Sowjetstaat eine Behörde zum Schutz von Staatsgeheimnissen in der Presse. „Glawlit“ hieß das Organ. Bis zur Perestroika war es die Behörde für Literaturkontrolle. „Glawlit“ entschied, ob ein Buch in der UdSSR veröffentlicht oder verfemt wurde.

Viele der Werke, die heute als Klassiker gelten, blieben Sowjetbürgern jahrzehntelang unzugänglich. Dazu gehören Michail Bulgakows „Meister und Margarita“ zum Beispiel oder Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ – von Alexander Solschenizyns Arbeiten ganz zu schweigen. Und von Exil-Autoren wie Iwan Bunin oder Wladimir Nabokow konnte sowieso keine Rede sein.

Doch die Sowjetführung hat es nicht vermocht, alles auszumerzen, was ihr irgendwie gefährlich erschien. Mit den Jahren lernten die Menschen in der UdSSR, mit der Zensur umzugehen oder besser gesagt, diese zu umgehen. Unter der Hand reichten sie Abschriften indexierter Bücher aneinander weiter. Dieses „Literaturgenre“ hatte sogar einen eigenen Namen: „Samisdat“ – „Selbstverlag“. Millionen von Sowjetbürgern kamen so in den Genuss verbotener Lektüre.

Krieg gegen die Kunst

Kassettenrekorder «Tembr» MAG-59M (1964) / State museum of political history of RussiaKassettenrekorder «Tembr» MAG-59M (1964) / State museum of political history of Russia

Nikita Chruschtschow, von 1953 bis 1964 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion KPdSU, war deutlich gemäßigter als Stalin. Er verurteilte die repressive Politik seines Vorgängers in einer Geheimrede im Jahr 1956. Laut dem Historiker Leonid Kazwa spielte Chruschtschow sogar mit dem Gedanken, die Zensur zumindest in der Kunst ganz abzuschaffen, änderte jedoch seine Meinung.

Auslöser für den Sinneswandel war die Ausstellung „Neue Realität“ von jungen Sowjetkünstlern. Deren Exponate brachten den Staatsmann in Rage: „Sowjetmenschen brauchen das alles nicht! Wir erklären euch den Krieg!“ schrie er den Künstlern ins Gesicht.

Repressalien gegen Künstler, die außerhalb des sowjetrealistischen Kanons wirkten, gingen weiter – auch unter Leonid Breschnew. Er regierte die KPdSU und die Sowjetunion von 1964 bis 1982. Ein „Glanzstück“ der Zensur jener Zeit: 1974 ließ die Regierung eine illegale Kunstaustellung am Moskauer Stadtrand mit Bulldozern und Wasserwerfern auseinandertreiben. Der Vorgang ist als „Bulldozer-Ausstellung“ in die Geschichte der russischen Kunst eingegangen. 

Stimmen der Freiheit aus dem Westen

Eine Übertragung auf Russisch aus New York am 17. Februar 1947. Auf dem Mikrofon steht geschrieben: „The Voice of America“. / APEine Übertragung auf Russisch aus New York am 17. Februar 1947. Auf dem Mikrofon steht geschrieben: „The Voice of America“. / AP

Den gesamten Kalten Krieg hindurch versuchten der Westen und der Osten einander durch „alternative Meinungen“ zu beeinflussen. Schon 1946 hatte der britische Sender BBC Rundfunksendungen für Sowjetbürger gestartet. Kurze Zeit später folgten Voice of America, Radio Liberty und Deutsche Welle.

Der Kreml war alles andere als erfreut darüber, dass westliche Sender der Sowjetführung reinredeten. Gegenmaßnahmen wurden ergriffen. Bald schon besaß die UdSSR das weltgrößte Netz von Funkstörsendern, wie der litauische Hörfunkjournalist Rimantas Pleikis berichtet.

Und dennoch bekam der Eiserne Vorhang Risse: Wer weiterhin „fremde Stimmen“ und alternative Meinungen empfangen und - ganz nebenbei - noch Jazz- und Rockmusik hören wollte, der fand einen Weg. 1988 gab die Sowjetführung schließlich nach: Michail Gorbatschow ließ die Störaktion einstellen.

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