„Das russische Dorf verwandelte sich in eine afroamerikanische Plantage von Onkel Tom“, schrieb Wassili Kljutschewski, der Verfasser des Buches „Kurs der russischen Geschichte“, über den Zustand der russischen Bauern Ende des 18. Jahrhunderts – der Blütezeit des russischen Leibeigenschaftssystems, in der die Gutsbesitzer über Leib und Leben ihrer Bauern verfügten.
„An das Land binden“
Die Leibeigenschaft in Russland entstand zwischen dem Ende des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Davor besaßen die für den Feudalherren arbeitenden Bauern das Recht, nach spezieller Absprache den Gutsherren zu wechseln. Im Jahr 1649 kam im Russischen Reich jedoch die Gesetzessammlung mit dem Titel „Sobornoje uloschenije“ heraus, die diese Praxis in Zukunft unterbinden sollte.
„Die Regierung war bestrebt, die Bauern an das Land zu binden“, sagt der Historiker Alexander Pyschikow, der als leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten Russlands (RANCHiGS) tätig ist. Laut ihm flohen die Bauern als Reaktion auf den Erlass vor den Feudalisten und der Regierung in schwer zugängliche Gebiete.
Russland führte im 16. sowie im 17. Jahrhundert Kriege, um sein Territorium zu erweitern, und benötigte hierfür Bauern, die im Fall einer Auseinandersetzung auch als Soldaten zu gebrauchen waren. „Das war auch für die Feudalherren finanziell von Vorteil, da die Bauern für sie arbeiteten“, sagt Pyschikow. Insofern war die Entrechtung der Bauern für alle einflussreichen Parteien in Russland von Nutzen.
Ein Leben für andere
Der leibeigene Bauer arbeitete und lebte auf dem Land, das ihm durch den Gutsherren zugeteilt wurde. Dafür musste er in Form von Fronarbeit oder eines Ackerzins bezahlen. Fronarbeit bedeutete, dass er an manchen Tagen der Woche nicht für den eigenen Gebrauch den Acker pflügte oder sich dem Kartoffelanbau widmete, sondern es für den Besitzer tat. Beim Ackerzins war der Bauer in seiner Arbeit frei, jedoch zur Teilabgabe des Einkommens oder der Ernte verpflichtet.
Im 18. Jahrhundert nahm die Leibeigenschaft unter den Bauern zu. Unter der Herrschaft Peter I. (1682-1725) wurde es üblich, Bauern zu verkaufen oder zu verschenken – Peter I. selbst schenkte dem Fürsten Alexander Menschikow um die 100 000 Menschen. In den Herrscherjahren Katharina II. (1762-1796) erhielt der Adel sogar das Recht, die Bauern zu bestrafen, indem sie sie zur Zwangsarbeit in die Verbannung schickten.
Wie die Würfel fallen
Nicht alle russischen Bauern waren Leibeigene: Ein Teil von ihnen arbeitete für die Regierung oder für den Zarenhof und nicht für Feudalherren. In manchen Regionen, beispielsweise in Sibirien und im Norden, gab es überhaupt keine Leibeigenschaft der Bauern.
Dennoch stieg bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Zahl der Leibeigenen rasant an: Den Statistiken nach zu urteilen betrug sie mehr als 50 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung, also ungefähr 40 Millionen Menschen.
Das Leben der Leibeigenen hing dabei davon ab, wie viel Glück sie mit ihrem Besitzer hatten. Traurige Berühmtheit in diesem Zusammenhang erlangte die Geschichte von Daria Saltykowa, einer sadistischen Feudalherrin, die mehr als 38 ihrer Leibeigenen zu Tode quälte (ungeachtet der Tatsache, dass die Besitzer kein Recht hatten, ihre leibeigenen Bauern zu töten). Zwar wurde sie im Jahr 1762 schließlich verhaftet, blieb aber bei Weitem nicht die einzige, die zu den Methoden der Folter und Erniedrigung gegenüber den Bauern griff.
Dennoch hält der Historiker Pyschikow den Vergleich Kljutschewskis für übertrieben. „Natürlich hatten es die Bauern schwer“, stimmt Pyschikow zu, „dennoch wurden sie, im Gegensatz zu den afroamerikanischen Sklaven, nicht wie Gegenstände behandelt. Sie hatten ein Stück Land, auf dem sie lebten und arbeiteten, wenn auch oft mehr für andere als für sich.“ Manche der Gutsbesitzer hatten sogar Mitleid mit ihnen und schenkten den Bauern eine Schulbildung sowie manchmal sogar die Freiheit.
Mühsame Reformversuche
Im Jahr 1797 unterschrieb Paul I. das “Manifest der dreitägigen Fronarbeit“ (auf Russisch „Манифест о трехдневной барщине“), um das Leid der Leibeigenen zu lindern. Dieses Manifest verbot es den Gutsherren, die Bauern am Sonntag arbeiten zu lassen, und zwang sie dazu, die restliche Woche in Zwei zu teilen. Während eines Teiles davon standen die Bauern dem Großgrundbesitzer zur Verfügung, den anderen hatten sie für das Beackern der Felder für den Eigengebrauch.
Pyschikow merkt hierbei an, dass das Manifest sehr wichtig war. Es demonstrierte zum ersten Mal das Bemühen des Zaren, die Macht der Großgrundbesitzer über die Bauern einzuschränken. Jedoch schenkte die Allgemeinheit ihm kaum Beachtung, da die Nichteinhaltung dieser Gesetze keinerlei Strafen nach sich zog.
Die darauf folgenden Reformversuche russischer Zaren trugen ebenso eher symbolische Züge. So erlaubte es der „Erlass der freien Getreidebauern“ (auf Russisch „указ о вольных хлебопашцах“) Alexander I. im Jahr 1803 den Gutsherren, ihre Leibeigenen in die Freiheit zu entlassen. Diese machten davon jedoch kaum davon Gebrauch: lediglich 1,5 Prozent der entrechteten Bauern bekamen in diesem Zeitraum ihre Freiheit zurück.
Der Wendepunkt
Russland, so Pyschikow, schaffte die Leibeigenschaft erst im Jahr 1861 ab, also später als die anderen europäischen Großmächte. Schließlich waren es die russischen Herrscher gewohnt, sich auf die Elite des Adels zu verlassen, von der ein Großteil Leibeigene besaß und nicht den Wunsch hatte, das zu ändern. Da die Regierung den Adel nicht reizen wollte, scheute sie sich, ihnen dieses Privilegium zu entziehen.
Die Wende führte schließlich der Krimkrieg zwischen 1853 und 1856 herbei, bei dem Russland dem britischen Reich und Frankreich unterlag. Eine der Ursachen für diese Niederlage, meint der Historiker Alexander Orlow, hing mit der Wirtschaft zusammen. Die russische Industrie, die immer noch starke agrarische und feudale Züge besaß, konnte mit der industriellen Revolution und den daraus resultierendem ökonomischen Fortschritt der europäischen Länder nicht mehr mithalten.
Die Notwendigkeit einer Reform, wie auch die Unzufriedenheit des Volkes, war offensichtlich geworden. So erklärte der neu gekrönte Herrscher Alexander II. im Jahr 1855: „Es ist doch besser, die Leibeigenschaft von oben abzuschaffen, anstatt abzuwarten, bis das von selbst von unten passiert.“
Die vertagte Freiheit
Im Jahr 1861 wurde, nach einer langen Vorbereitungszeit, das Dokument zur Abschaffung der Leibeigenschaft von Alexander II. unterschrieben. Das führte zur Befreiung von 23 Millionen leibeigenen Bauern, die 34 Prozent der damaligen Bevölkerung ausmachten.
In Wirklichkeit jedoch befanden sich die Bauern weiterhin in einem Abhängigkeitsverhältnis. Das Land, auf dem sie lebten, war noch immer im Besitz der Gutsherren und musste diesen abgekauft werden. Als Alternative stand es den Bauern frei, nach dem Verlust des eigenen Landgebietes in der Stadt zu arbeiten.
Die Reform führte zu einer Massenunruhe und zu Aufständen seitens der Bauern, denn viele waren davon überzeugt, dass der Zar sie „wirklich“ befreit hatte und die Gutsherren aus Bosheit die Wahrheit vor ihnen verheimlichten. Es brauchte weitere 45 Jahre, bis die Revolution 1905 die Regierung dazu zwang, diesen Zahlungen 1906 ein Ende zu setzen.