„Die Vertreibung der aktiven konterrevolutionären Elemente und bourgeoisen Intelligenzija ist die erste Verwarnung der Sowjetmacht an diese Schichten“, meldet die sowjetische Tageszeitung „Prawda“ (deutsch: Wahrheit) am 31. August 1922. Wenige Monate später bringen die zwei deutschen Schiffe „Oberbürgermeister Haken” und „Preußen” die Crème de la Crème der russischen Intellektuellen aus der Sowjetunion nach Westeuropa.
Insgesamt mehr als 160 Personen mit ihren Familien wurden zur Ausreise gezwungen, darunter Professoren, Doktoren, Lehrer, Ökonomen, Schriftsteller sowie politische und religiöse Engagierte. Sie alle verband dabei eigentlich nur eines: Sie kritisierten die Sowjetunion.
Mitnehmen durfte diese vertriebene Elite nicht viel: zweimal Unterwäsche, Socken, Schuhe, ein Jackett, Hosen, einen Mantel und eine Mütze. Mehr nicht. Geld und Schmuck waren verboten – das gesamte Vermögen wurde in der Sowjetunion konfisziert.
Wissenschaftlicher Erfolg und erfolgreiche Wissenschaftler
Unter den „Verschifften“ waren die erfolgreichsten sozialen Denker und Lehrer des Landes. Der berühmteste unter ihnen war Pitirim Sorokin, der Begründer der modernen Soziologie. Während der Revolution aber unterstützte er die „weißen“ Gegner der Bolschewiken. Später distanzierte er sich von jeglichem politischen Engagement.
Außerdem wurden berühmte nicht-marxistische Philosophen und Schriftsteller des Landes verwiesen: Sergej Bulgakow, Nikolaj Berdjajew, Nikolaj Losskij, Iwan Ilyjn und Semjon Frank – all jene prägten bis 1917 die russische Philosophie.
Die Mehrheit der Zwangspassagiere auf dem Weg gen Westen allerdings war damals noch nicht besonders bekannt. Insgesamt aber gehen Historiker davon aus, dass die Vertreibung das sowjetische um bis zu 13.000 bedeutende wissenschaftliche Arbeiten gebracht hat, die nun im Ausland allein bis 1939 entstanden.
„Ideologische Sklaven der Bourgeoisie”
Aber warum verzichtete die Sowjetunion auf ihre klügsten Köpfe? Diese Entscheidung war offiziell mit den angestrebten Veränderungen im Bildungsbereich verbunden. 1921 hatten die Bolschewiki bereits die Autonomie der Universitäten eingeschränkt, um auch im Bildungssektor die Schaffung einer neuen, sozialistischen Gesellschaft anzugehen und hierzu die Kontrolle über die Bildungseinrichtungen zu verstärken. Die Hochschulreform verursachte einen grundsätzlichen Konflikt, der eine Welle sogenannter Professoren-Streiks nach sich zog.
Außerdem spielte aber auch eine bedeutende Rolle, dass viele Intellektuelle natürlich auch religiöse Denker waren. Diese hatten in dem sowjetischen und anti-religiösen Russland natürlich keinen Platz. Dies zeigt auch ein Artikel von Revolutions- und Sowjetführer Wladimir Lein vom März 1922, der erst den Weg ebnete für den „Philosophen-Dampfer“. Das Schriftstück trug den Titel „Über die Signifikanz des militanten Materialismus“ und verbindet Religion und die zeitgenössischen nicht-marxistischen philosophischen Strömungen mit dem Klassendenken der Bourgeoisie, dem erklärten Feind des russischen Arbeiterstaates.
Für Lenin waren all diese Religiösen und modernen Philosophen nur „ideologische Sklaven der Bourgeoisie“, die nur wieder das alte kapitalistische System in Russland einführen wollen. Es hieß, die Bourgeoisie manipuliere die Massen durch ihre reaktionären und vor allem religiösen Ideen. Darum meinte der Sowjetstaat, sich diesem Problem annehmen zu müssen.
„Der sakrale Sowjetstaat“
Der Sozialphilosoph Sergej Kara-Mursa jedoch schreibt in seinem Buch „Der Zusammenbruch der UdSSR“ von einem weiteren Aspekt der „Intellektuellen-Frage in der Sowjetunion“: Die Bolschewiken hatten seiner Ansicht nach einen ideokratischen Staat auf Grundlage einer allgemeinen Vorstellung von Gerechtigkeit. Die Ideologie spielte eine Schlüsselrolle in diesem System. Darum konnten die Bolschewiki keinerlei Konkurrenten in ihrem Ideenkonzept dulden.
Der ausgewiesene Philosoph Berdjajew schrieb ein Jahr nach seiner Ausreise in deinem Buch „Die Philosophie der Ungleichheit“: „Der sozialistische Staat ist kein säkularer Staat, er ist ein sakraler Staat. Er ähnelt einem autoritären theokratischen Staat. Der Sozialismus besitzt so einen messianischen Glauben. Und die Wächter dieses messianischen ‚Idee‘ des Proletariats und seiner spezifischen Hierarchie ist die Kommunistische Partei, extrem zentralisiert und über diktatorische Macht verfügend.“
Aber: „Die Männer, die mit dem Philosophen-Dampfer ausgeschifft wurden, griffen nicht gemeinsam nach dem philosophischen Hammer, mit dem sie hätten die ganze Welt überzeugen können. Sie glaubten nicht an die Unterordnung von Wissen und intellektueller Integrität irgendeinem politischen Programm“, schreibt ein Buchkritiker in einer Rezension zu dem Thema.
Lenin pflegte die “Ausgeschifften” später als Feinde oder Militärspione zu bezeichnen. Sein einstiger Weggefährte Leo Trotzki ging sogar noch einen Schritt weiter: „Wir ließen diese Menschen ausreisen, weil es keinen Vorwand gab, sie zu erschießen, wir sie aber unmöglich tolerieren konnten.“