Zehn unkonventionelle Lösungen aus dem sowjetischen Alltag

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Das Leben in der Sowjetunion war durchaus hart, weil sich die Bevölkerung vielen Entbehrungen gegenübersah. Doch wer verzichten muss, wird oft kreativ. Russia Beyond stellt zehn dieser kreativen Ansätze vor.

1. Wandteppiche

In Russland sind Teppiche nicht nur auf dem Boden zu finden, sondern werden gerne mal auch an die Wände gehangen. Ein Brauch, der sich seit dem 17. Jahrhundert in Russland etablierte und ursprünglich als Zeichen für materiellen Wohlstand galt. In der Sowjetunion diente vor allem zur Wärme- und Schalldämmung in ärmeren Wohnhäusern, in denen der Großteil der sowjetischen Bevölkerung lebte.

2. Das Sodawasser aus dem Siphon

Der Siphon, ein Gerät zur Herstellung und Dosierung für kohlensäurehaltiges Sodawasser, wurde im Jahr 1829 in Frankreich erfunden und war bis zum Zweiten Weltkrieg in Europa sehr gefragt. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurden die meisten europäischen Siphonproduktionstätten zerstört und bereits abgefüllte Mineralgetränke populär. Da in der Sowjetunion abgefülltes Mineralwasser aber sehr teuer war, stellte der Siphon, der mit kleinen CO2-haltigen Zylindern wieder aufgefüllt konnte, eine günstige Alternative dafür dar.

Mit dem Siphon karbonisierten trinkfeste Arbeiter zudem auch Wodka. Während Gorbatschows Alkoholverbot versuchten viele den Alkoholgehalt von alkoholischen Getränken auf diese Art und Weise zu erhöhen, da karbonisierter Wodka durch die Kohlensäure schneller über den Blutstrom vom Körper aufgenommen wird.

3. Fäustlinge mit Gummibändern

Dieser Trick, der jedem sowjetischen Kind, das im Winter draußen spielte, bekannt ist, wurde besonders gerne in Kleinstädten und auf dem Dorf angewendet, um in der kalten Jahreszeit dem Verlust von Fäustlingen oder Handschuhen vorzubeugen. Denn Wolle war aufgrund ständiger Lieferschwierigkeiten oft nicht so schnell nachzukaufen und Handschuhe konnten nicht so schnell nachgestrickt werden. Deshalb nähten sowjetische Mütter und Großmütter mit einem Gummiband die Fäustlinge oder Handschuhe aneinander und zogen diese durch die Innenseiten der Ärmel des Mantels. Diese baumelten dann an den Ärmeln und gingen, auch wenn sie ausgezogen waren, nicht verloren.

4. Nummern auf den Handflächen

Konsumgüter wie frisches Fleisch, Obst, aber auch Möbel und Haushaltsgeräte waren in der Sowjetunion oftmals Mangelware und zogen lange Warteschlangen nach sich, die einen großen Teil der Freizeit der Bürger in Anspruch nahmen. Manchmal gab es, insbesondere in großen Einkaufzentren, zeitgleich für verschiedene Ware auch mehrere Schlangen, für die sich die Leute „registrieren“ mussten. Jede Warteschlange hatte dabei eine inoffizielle, durchnummerierte Liste, die mit einem Kugelschreiber auf die Handflächen geschrieben wurde. Wenn man Glück hatte, war man für zwei oder drei Warteschlangen „registriert“ und hatte somit die Chance, ein Paar Schuhe, Orangen und eine Flasche Wein zur selben Zeit zu ergattern – von einer mit Tintenpaste beschmierten Hand ganz zu schweigen.

5. Einkaufsnetze

Die typische russische Einkaufstasche, die im Volksmund „awoska“ genannt wird und von der russischen Redewendung „A wosj?“, die auf Deutsch „Was wenn?“ bedeutet, abstammt, ist ein kleines durchsichtiges Einkaufsnetz, das sich problemlos zusammenfalten und in jeder Handtasche verstauen lässt. Sie bot den Sowjetbürgern eine gute Alternative zu den schwer erhältlichen Plastik- oder Leinentüten und lud die Passanten zum gegenseitigen Frage-und-Auskunft-Spiel à la  „Wo haben Sie … diese Orangen, Schuhe, diesen Fisch, dieses Dosenobst und so weiter gekauft?“ ein.

6. Recycling in der Sowjetunion: Glas- und Papiermüll

Um die Wiederverwertung der Abfälle kümmerte sich in der Sowjetunion die Regierung. Sie veranstaltete beispielsweise in Schulen Wettbewerbe zum Thema „Altpapierentsorgung“ und verteilte Coupons an Erwachsene, mit denen sie neue Bücher erwerben konnten, wenn sie ihr Altpapier mitbrachten. Für 20 Kilogramm Altpapier konnte man zum Beispiel einen Band aus Alexandre Dumas’ Gesamtwerk erhalten.

Auch Altglas war in der UdSSR ein großes Thema. Da es sich lohnte, die Flaschen zum Recyclingcenter zu bringen, gab es auf den Straßen so gut wie keine zerbrochenen oder herumliegenden Flaschen. Eine leere Milchflasche, ausgespült und vom Etikett befreit, brachte zum Beispiel 0,15 Rubel ein – also mehr als die Milch an sich kostete. Oft wurden die Flaschen, die man meist dort zurückgeben konnte, wo man sie auch gekauft hatte, nicht zerstört, sondern gleich wiederverwendet.

7. „Wurstzüge“ und „Wurstbahnsteige“

„Was ist lang, grün und riecht nach Wurst? Eine S-Bahn“, lautet ein Witz aus der Sowjetzeit. Aber warum? Vor den Hauptfeiertagen wie Silvester oder den Feierlichkeiten im Mai waren viele Lebensmittel, insbesondere die Wurst, die auf jeden Festtagstisch gehörte, Mangelware. Da Wurstwaren ebenso wie frisches Fleisch nur in den größeren Städten erworben werden konnten, waren die S-Bahnen kurz vor den Feiertagen voll mit Menschen, die sich auf den Weg in die Stadt machten, um dort in Warteschlangen auf die Ware zu warten. Um die große Anzahl der Passagiere in dieser Zeit unterzubringen, mussten die Regionalbahnen mit zusätzlichen Zugabteilen ausgestattet werden, die dann auf spezielle Bahnsteige umgeleitet wurden und so die Bezeichnungen „Wurstzüge“ und „Wurstbahnsteige“ erhielten. 

8. Rotes Licht im Bad

Eine rote Glühbirne im Bad war zur Sowjetzeit durchaus nichts Ungewöhnliches und wies lediglich darauf hin, dass einer der Hausbewohner Hobbyfotograf war, der aufgrund der hohen Kosten, die für die Filmentwicklung in einem professionellen Fotolabor gezahlt werden mussten, in seinem Badezimmer ein kleines Entwicklungsstudio eingerichtet hatte. Mit einfachen Werkzeugen, Entwicklungs- und Fixierlösungen sowie einer roten Glühbirne als Lichtquelle ausgestattet widmete er sich hingebungsvoll der Fotofilmentwicklung. Die Ergebnisse, die meist die Familiengeschichte dokumentierten, wurden danach sorgfältig in einem Fotoalbum archiviert und nahmen einen besonderen Stellenwert im sowjetischen Alltagsleben ein. So waren sie beispielsweise ein beliebtes Mittel, sich bei Geburtstagen oder anderen Feierlichkeiten mit den Gästen die Zeit zu vertreiben.

9. „Musik auf den Rippen“

Ausländische Musik, wie der Rock-and-Roll, wurde in der Sowjetunion von der Regierung verbannt und als „imperialistisches Werkzeug des Bösen“ verspottet. Neue Schallplatten von den Beatles oder T-Rex konnten also ausschließlich auf dem Schwarzmarkt für teures Geld erworben werden. Aufgrund der hohen Nachfrage kamen die Schwarzmarkthändler schließlich auf die Idee, die Schallplatten auf alte Röntgenaufnahmen, die sie sich aus den Krankenhäusern beschafften, zu drucken. Dabei handelte es sich bei diesen Schallplatten mit einem 17,5 Zentimeter Durchmesser meist um Röntgenbilder der Lunge, auf denen der Brustkorb eines Mannes abgebildet war und die deshalb gerne als „Musik auf den Rippen“ bezeichnet wurden. Ihre Soundqualität war furchtbar und auch die Musik konnte nicht mehr als zehn Mal gehört werden. Die Kosten jedoch waren jedoch im Vergleich zum ausländischen Original, das ungefähr 80 Rubel, also ein ganzes Monatsgehalt, kostete, sehr günstig und beliefen sich auf ein bis zwei Rubel. Zudem konnten diese auf dem Schwarzmarkt gekauften „Rippen“ eingerollt leicht im Ärmel versteckt und transportiert werden.

10. Pilztee

In vielen sowjetischen Haushalten empfahlen ältere Familienmitglieder gerne mal, „einen Pilztee zu trinken, da er gut für die Gesundheit ist“. Auf dem Fensterbrett in der Küche stand deshalb ein großes Glas, in dem eine „oktupusartige Gestalt“ in brauner Flüssigkeit lebte. Kombucha heißt das Getränk und besteht aus einer in Symbiose lebenden Bakterien- und Pilzkolonie, die sich vom süßen Schwarztee ernährt und nach einer Weile in „Pilztee“ beziehungsweise in ein bittersüßes, leicht alkoholisches Getränk verwandelt, dessen Geschmack an den russischen Brottrunk „Kwas“ erinnert.

In der UdSSR galt Kombucha als Allheilmittel, das alle Beschwerden, von Aids, Krebs bis hin zu grauem Haar, heilen kann, doch das ist bis heute nicht bewiesen. Aufgrund der langen Warteschlangen vor den Krankenhäusern und schwer zu bekommenden Medikamenten sahen sich jedoch viele Sowjetbürger genötigt, zu volksheilkundlichen Mitteln wie dem Kombucha-Tee zu greifen. Vor nicht allzu langer Zeit kultivierte sogar der russische Waffenhändler Viktor Bout in den USA seinen eigenen „Pilztee“ in einer Gefängniszelle, der jedoch aufgrund des leichten Alkoholgehalts konfisziert werden musste.

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