Geschlossene Grenzen: Wie Sowjetbürger im Kalten Krieg legal den Eisernen Vorhang passierten

Sowjetische Touristen in Ungarn, 1978

Sowjetische Touristen in Ungarn, 1978

Valentin Mastyukov/TASS
Wer sich heute über verspätete Flüge aufregt, sollte bedenken, dass eine Ausreise aus der Sowjetunion oft Jahre dauerte. Der Eiserne Vorhang schnitt die Menschen vom Großteil der restlichen Welt ab. Einige Glückliche aber durften ins Ausland reisen.

Nur ein absolut essentieller Grund erlaubte es sowjetischen Bürgern, in ein anderes Land zu reisen. Mehrere Stufen musste ein Bewerber durchlaufen, um ein Ausreisevisum zu erhalten.

Paradoxerweise war es zu Zeiten der Sowjetunion viel leichter, ein Einreisevisum in ein fremdes Land zu erhalten, als ein solches für die Ausreise ausgestellt zu bekommen.

Zunächst musste ein Reisender Mitglied einer Organisation sein, die ihn oder sie auf eine Geschäftsreise ins Ausland schicken konnte oder einen Urlaub außerhalb der Sowjetunion anbot. Dies passierte allerdings nur äußerst selten und meist stand diese Möglichkeit nur den besten Arbeitskräften offen.

In beiden Fällen musste der Vorgesetzte des Antragstellers ein Dokument ausstellen, das eindeutig belegte, warum eine Reise zu einem Ziel außerhalb der UdSSR notwendig war.

Dabei sollte erwähnt werden, dass Sowjetbürger sich ihr Ziel nicht aussuchen konnten. Stattdessen wurde jede Gelegenheit ergriffen, wenn sich eine solche auftat.

Wenn das Begründungsdokument ausgestellt war, bewarb sich der Reisende bei der staatlichen Abteilung für Auslandsreisen, die für die Vergabe von Reisegenehmigungen zuständig war.

Vielen wurde die Ausreise an dieser Stelle verwehrt, ohne dass dies begründet wurde. Ein Einspruch gegen die Entscheidung konnte nicht erhoben werden.

Strenge Kontrollen

Mit der Ausstellung einer Reisegenehmigung war der Prozess aber keinesfalls abgeschlossen. Der oder die Reisende wurde einer speziellen Kontrolle unterzogen und musste Referenzen der Vorgesetzten und politischen Weggefährten vorlegen.

Potenzielle Kandidaten wurden zudem einem Verhör bei der staatlichen Abteilung für Auslandsreisen unterzogen und dort offiziell für eine Reise vorgeschlagen. Wenn das Verhörpanel mit den Antworten des Antragstellers nicht zufrieden war, konnte die Reisegenehmigung zurückgezogen werden – und das für viele Jahre.

Neben dem Durchlaufen einer medizinischen Untersuchung mussten Antragsteller zahlreiche Dokumente ausfüllen. Dazu gehörten ein Lebenslauf und ein detaillierter Zeitplan der anstehenden Reise.

Wenn das Ziel ein kapitalistisches Land war, musste zudem der KGB ein Dokument ausstellen, das die Unbedenklichkeit einer Ausreise bestätigte. Für Reisen in sozialistische Staaten war dies nicht notwendig.

Sowjetische Touristen in Havanna, Kuba

Nach erfolgreichem Abschluss all dieser Schritte wurde ein Pass mit Ausreisevisum an den Arbeitsplatz des Antragstellers versandt. Es war verboten, diesen zuhause aufzubewahren.

Mit Ausstellung des Reisepasses wurden das nationale Ausweisdokument und die Mitgliedsbestätigung der Kommunistischen Partei eingezogen, bis der Reisende wieder ins Land zurückkehrte.

Falls der Antragsteller von Verwandten im Ausland eingeladen wurde und diese eine private Einladung ausgestellt hatten, musste der oder die Reisende zusätzlich eine Abreisegebühr von 200 Rubel, einem Monatsgehalt, zahlen. Grundsätzlich aber waren Verwandte im Ausland ein großes Hindernis für die Ausstellung einer Ausreisegenehmigung.

In einem letzten Schritt musste der Reisende sich bei der sowjetischen Reiseagentur Intourist melden, die für die Organisation von Reisen, Einreisevisa, Transport und vieles mehr zuständig war.

Die wenigen Privilegierten

Am ehesten reisten all jene, deren Berufe in direkter Verbindung mit fremden Ländern standen: Diplomaten, Mitglieder sowjetischer Handelsvertretungen, internationale Piloten, Seemänner, und so weiter.

Sportler, Wissenschaftler und Künstler hatten ebenfalls vergleichsweise wenig Mühe, ein Ausreisevisum zu bekommen. Die Sowjetunion war sehr daran interessiert, im Ausland ein positives Image des Landes zu vermitteln.

Irina Nekrasowa, eine Bewohnerin der Region Moskau, erzählt von ihrem Vater, dem Chemiker Boris Nekrasow. Dieser machte in den 1960er-Jahren einige Auslandsreisen als Mitglied sowjetischer Delegationen nach Rom, Venedig, Florenz und London, um dort an wissenschaftlichen Konferenzen teilzunehmen.

Obwohl er nicht an einer Universität in Moskau oder Leningrad arbeitete, sondern stattdessen am ländlichen Institut für Bergbau und Metallurgie in der sowjetischen Republik Nord-Ossetien angestellt war, habe er dennoch mehrfach die Gelegenheit bekommen, westliche, kapitalistische Länder zu besuchen, berichtet Irina.

Gleichzeitig achtete die sowjetische Führung darauf, enge Beziehungen zu seinen Verbündeten im Ostblock zu pflegen. Dies beinhaltete Begegnungen junger Menschen, kulturellen Austausch und Freundschaftsbesuche.

Tatjana Sorokina, ehemalige Leiterin einer Abteilung an der staatlichen Lenin-Bibliothek der UdSSR, der größten des Landes, besuchte Bulgarien, die Tschechoslowakei und die DDR, wo sie mit dem sogenannten „Zug der Freundschaft“ fuhr, der es den besten sowjetischen Arbeitern erlaubte, sich mit dem Leben in Ostdeutschland und anderswo vertraut zu machen.

Sowjetische Touristen in der Galerie Alte Meister in Dresden

Ihre Auslandsreisen seien vor allem deshalb möglich gewesen, weil sie einst ein hohes Amt in der politischen Jugendorganisation Komsomol bekleidet habe, erzählt Tatjana gegenüber Russia Beyond.

“Nicht-Wiederkehrer”

Die vielen Hürden und Tests, denen sich Bewerber ausgesetzt sahen, dienten dazu, sogenannte “Vertrauensunwürdige“ an der Ausreise zu hindern. Es bestand immer die Chance, dass solche Menschen nicht von ihren staatlich finanzierten Reisen zurückkehren würden und stattdessen im kapitalistischen Ausland blieben.

In der Sowjetunion galt dies als Verrat am Mutterland und wurde mit der Konfiszierung von Eigentum, Freiheitsentzug und, in extremen Fällen, der Tötung durch ein Erschießungskommando bestraft.

Dennoch ergriffen viele Menschen die Chance, wenn sie sich ihnen bot, und kehrten nie in die Sowjetunion zurück. Sie waren bekannt als die newoswraschtschentsi, zu Deutsch die „Nicht-Wiederkehrer“.

Die meisten dieser Menschen waren Künstler oder mit der Kunst verbunden und fühlten, dass ihnen das sowjetische System nicht genug Freiheit oder ausreichende Möglichkeiten bot.

Zu den bekanntesten “Nicht-Wiederkehrern” zählten die Balletttänzer Rudolf Nurejew und Michail Baryschnikow, der Dirigent Mstislaw Rostropowitsch und der Regisseur Andrei Tarkowski.

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