Mysteriöse „Seydlitz-Truppen“: Kämpften die Sowjets wirklich mit deutschen Truppen gegen die Nazis?

In der Deutschen Wehrmacht verbreitete sich noch während des Zweiten Weltkrieges das Gerücht, dass die sogenannten „Seydlitz-Truppen“ auf Seiten der Sowjetunion gegen die eigenen Leute kämpften. Die Soldaten und Wehrmachtgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach seien in Kriegsgefangenschaft gekommen und dann von den Sowjets für sich instrumentalisiert worden, hieß es. Tatsächlich war das alles etwas anders.

Die durchbrochenen Blockaden

Friedrich Paulus (r.) und Walther von Seydlitz-Kurzbach (l.) im November 1942 im Norden Stalingrads

General Walther Kurt von Seydlitz-Kurzbach galt innerhalb der Deutschen Wehrmacht als perfekter Taktiker. Seine Division durchbrach unter anderem die Blockade des Zweiten Armeekorpses bei der Kesselschlacht von Demjansk 1942. Dieser Erfolg wurde weithin bewundert.

Als dann die Sechste Armee, dessen 51. Korpse Seydlitz anführte, im November 1942 bei Stalingrad eingeschlossen wurde, wollte er auch diesen Kessel mutig sprengen. Doch sein Vorgesetzter Friedrich Paulus (1890 – 1957) untersagte ihm jeglichen Versuch. Paulus folgte da noch stur Hitlers „Keinen-Schritt-zurück“-Befehl.

Nach mehreren aussichtslosen Versuchen, Paulus zu überzeugen, ergriff Seydlitz selbst die Initiative. Er ignorierte die Weisung seines direkten Vorgesetzten und wandte sich an den Kommandanten der Armeegruppe B, den späteren Generalfeldmarschall Maximilian von Weichs: „Nun nicht aktiv zu werden, ist ein Verbrechen vom militärischen Standpunkt aus, und es ist ein Verbrechen vom Standpunkt der Verantwortung für das Deutsche Volk aus.“ Weichs sollte Seydlitz jedoch niemals antworten.

Seydlitz musterte einen Teil seiner Truppen, überlegte, ob ein Durchbruch möglich wäre. Aber ohne die Unterstützung der übrigen Deutschen Armeetruppen vor Ort war die Aktion sofort zum Scheitern verurteilt. Als der Seydlitz und seine Truppen dann am 31. Januar 1943 von den sowjetischen Truppen in gefangengenommen wurden, war der General am Boden zerstört und von Paulus und Hitler zutiefst enttäuscht.

 Der „Deutsche Wlasow“

Kapitulation deutscher Truppen 1945 auf der Halbinsel Kurland im heutigen Gebiet Kaliningrad

Als die sowjetischen Offiziere Seydlitz dann im Gefangenenlager beiseite nahmen und ansprachen, fielen ihre Angebote auf fruchtbaren Boden. Seydlitz war desillusioniert von der Deutschen Führung und zutiefst schockiert von der Katastrophe bei Stalingrad und so willigte er ein, mit den Kommunisten zu kollaborieren. Der US-amerikanische Historiker Samuel W. Mitcham schreibt dazu in seinem Buch „Hitlers Kommandeure“: Seydlitz „war überzeugt, dass jeder Schritt, der den Fall Hitlers voranbrachte, gut für Deutschland sein würde – selbst wenn dies die Unterstützung Stalins bedeutete.“

Gemeinsam mit 93 weiteren Offizieren formierte Seydlitz dann einen Verband deutscher Offiziere und wurde dessen Präsident. Später wurde er außerdem Abgeordneter des Nationalen Komitees für ein Freies Deutschland, das von deutschen Kommunisten geleitet wurde.

Seydlitz’ spätere Aktivitäten spiegelten praktisch die des sowjetischen Generals Andrej Wlasow, der von den Deutschen geschnappt worden war, dann Deutschland begann zu unterstützen und dem sogenannten Komitee zur Befreiung der Völker Russlands leitete.

Seydlitz beteiligte sich aktiv im Propaganda-Krieg. Er versuchte ernsthaft, deutsche Kommandeure davon zu überzeugen, dass Hitler Deutschland betrogen habe, indem er so eine Katastrophe wie die in Stalingrad ermöglicht hatte. Und letztlich hätten sie ja alle einen Eid auf ihr Land, und nicht auf den Führer geschworen (was nicht ganz stimmte, denn der Eid im Deutschen Reich schloss natürlich den Führer ein).

„Wenn Hitler weg ist, wird Deutschland Frieden machen“, sagte Seydlitz. Und dem Anführer der neunten Armee, Walter Model, schrieb er im Oktober 1943: „Bring Hitler dazu zurückzutreten! Lass das Land den Russen und nimm die Östliche Armee jenseits der Grenzen Deutschlands. Eine solche Entscheidung wird einen ehrenvollen Frieden bringen, der dem Deutschen Volke die Rechte einer freien Nation bewahrt.“

Seydlitz’ Bitten jedoch fanden unter den deutschen Offizieren keinen großen Anklang. Nur sein Aufruf an die Verteidiger Königsbergs, die Waffen niederzulegen, führte wirklich zur Kapitulation der dortigen Garnison im April 1945.

Die größte Herausforderung für Seydlitz – und gleichzeitig seinen größten Wunsch – stellte jedoch die Formierung spezieller deutscher Truppen dar, die gemeinsam mit den Sowjets gegen die Deutsche Wehrmacht vorgehen sollten. Aber eine solche Aktion bedurfte der direkten Erlaubnis des sowjetischen Oberheerführers, also Josef Stalins.

Die Seydlitz-Truppen: Mythos oder Realität?

Von der Roten Armee erbeutete deutsche Kampfflieger Messerschmitt Bf-109-G2

Trotz zahlreicher Anfragen seitens Seydlitz hat Stalins niemals sein Einverständnis zur Formierung neuer Truppen aus deutschen Kriegsgefangenen erlaubt. Jene durften ausschließlich im Hinterland zu Konstruktionsarbeiten eingesetzt werden. Die sowjetische Führung verdächtigte jeden ethnischen Deutschen der möglichen Kollaboration mit Hitlerdeutschland – sogar seine eigenen Bürger. Die Wolgadeutschen ließ Stalin darum rund um die Uhr überwachen und von der näher rückenden Frontlinie weiter ins Hinterland umsiedeln – 1941 nach Sibirien und Zentralasien.

Frühere Nazis jedoch waren trotzdem in den Reihen der sowjetischen Soldaten zu finden, aber nur in Partisanengruppen: Der ehemalige Gefreite Fritz Schmenkel beispielsweise wurde für seine Verdienste dort später gar als „Held der Sowjetunion“ mit einem Orden ausgezeichnet. Aber das waren Einzelfälle. Ganze Truppen aus Kriegsgefangenen? Dass stand für die Sowjetführung ganz klar außer Frage. Und Seydlitz konnte so nie – wie Wlasow mit seiner Russischen Befreiungsarmee – eine Gefangenentruppe aufstellen, währen der Antrag der Rumänischen Kriegsgefangenen auf eine eigene Diversion innerhalb der Roten Armee bewilligt und zwei Rumänische Infanteriedivisionen gegründet wurden.

Die Nazis selbst jedoch glaubten an solche „deutschen sowjetischen Truppen“ und erzählten immer wieder, sie hätten hier und da gegen die „Seydlitz-Truppen“ gekämpft. Sie waren überzeugt, dass deutsche Kriegswaffen als Trophäen mit roten Sowjetsternen verziert wurden und weiter im Kampf gegen die Deutschen eingesetzt würden, darunter auch die Kampfflieger FW-190 und ME-109, die von deutschen Piloten geflogen würden, um Propaganda-Flugblätter zu verteilen.

Der Schriftsteller und Vorsitzende des Nationalkommitees für ein Freies Deutschland, Erich Weinert (r.) und der Vorsitzende der Liga deutscher Offiziere und frühere Wehrmachtsgeneral Walther von Seydlitz-Kurzbach (l.) erörtern im Moskauer Umland einen Zusammenschluss beider Organisationen.

Helmut Altner, ein junger Soldat, der noch die Hauptstadt des Dritten Reich in dessen letzten Tagen verteidigte, schrieb darüber in seinen Memoiren „Todestanz Berlin“, dass sie „Seydlitz-Truppen“ selbst Berlin noch in deutschen Uniformen, aber Orden der Roten Armee erreicht hätten. „Ich kann es nicht glauben – Deutsche gegen Deutsche!“ Selbst gesehen jedoch hat Altner diese „deutschen Rotarmisten“ nie, ein Panzerfahrer will ihm dies jedoch erzählt haben.

Aber Fakt ist: Es gibt keinerlei Dokumente oder Aufzeichnungen weder in deutschen noch russischen Archiven und auch sonst keine offiziellen Belege für die Existenz solcher Truppen. Die „Seydlitz-Truppen“ waren ein Kriegsmythos, der nie existiert haben kann.

PS: Seydlitz’ Schicksal nahm einen besseren Lauf als das seines  „Kollegen“ Wlasow, der nach Kriegsende 1946 in Moskau hingerichtet wurde. Nach einigen Jahren im Gefangenenlager kam er nach Kriegsende zurück nach Deutschland und starb 1976 in der DDR.

>>> Nikolai Kusnezow: Der Deutsche, der nie in Deutschland war

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