„Und dann fielen sie wieder in gleichgültige, stumpfe Verzweiflung und saßen an den Tischen der Schenke im Tabaksdampf und Lampenqualm, finster, zerlumpt, wortkarg, dem triumphierenden Geheul des Windes lauschend, und dachten nur daran, sich am Schnaps zu betrinken, zu betrinken, bis sie die Empfindung verloren…“
So beschreibt der russische Autor Maxim Gorki in seiner Erzählung „Ehemalige Leute” das Leben der Obdachlosen um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in einem kleinen, dreckigen Obdachlosenheim, der sogenannten „Notschleschka“. Die Geschichte, die Gorki hier beschreibt, ist zwar eine fiktive, die Beschreibung jedoch passend. Er lebte selbst stets als Vertreter der einfachen Klassen der Gesellschaft und kannte die Gegebenheiten gut.
Der amerikanische Journalist Josiah Flynt, der 1897 nach Russland kam, ging jedoch noch einen Schritt weiter als Gorki: Er schloss sich den Vagabunden an und zog mehrere Monate mit diesen „Goriuns“, wie sie sich selbst nannten, durch das Land.
Von Tolstoi zum Bettler
„Ich hatte eigentlich nicht vor, in Russland so umherzuziehen“, schreibt Flynt später in seinen Erinnerungen. Flynt war ja auch Zeitgenosse von Lew Tolstoi und erfreute sich auch dessen Gastfreundlichkeit. Aber Flynt war angetrieben von unbändiger Neugier und recherchierte schon im Vagabundenmilieu in den USA, Deutschland und England. Tolstoi höchst persönlich riet ihm zu dieser Reise, denn so würde er einen „ansehnlichen Teil ihres Lebens“ entdecken.
Und so schloss sich Flynt in Witebsk (heute Belarus) einer Gruppe bettelnder Obdachlosen an: „Es waren Hunderte, die in Banden und Familien umherzogen.“ Woher der Neue kam, verstand kaum jemand. „Amerika...Amerika? In welcher Provinz liegt das?“, fragten sie ihn dann oft.
Raub, Mord, Prostitution - hier gab es alles
Aber mit wem zog Flynt denn dann durch Russland? Wie er selbst später schreibt, habe es um die 900.000 Obdachlosen, die so durch den europäischen Teil des Russischen Zarenreiches zogen. Die meisten waren Bauern, die mit dem Aufschwung der Industrialisierung auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gezogen waren, jedoch keine Stelle und somit keinen Verdienst fanden. Dann verloren sie oft ihre Ausweispapiere, mussten sich darum vor der Polizei verstecken, um nicht ins Dorf zurück geschickt zu werden. Und ständig drohte ihnen Gefängnis.
Aber es habe, so Flynt, doch Möglichkeiten gegeben, gefälschte Pässe zu erwerben, die die Behörden dann auch nicht entdecken könnten. Darum jedoch konnte noch schwieriger festgestellt werden, wie viele Obdachlose es denn überhaupt im Lande gab. Mancher zog einfach von Dorf zu Dorf oder nächtigte in sogenannten „Nachtasylen“ in den Städten. Laut dem russischen Reporter und Schriftsteller Wladimir Giljarowskij gab es damals allein in dem berüchtigten Moskauer Stadtteil Chitrowka 10.000 Bettler, Zehntausende mehr in anderen Bezirken und Städten.
In den russischen Obdachlosenheimen gab es alles: Diebstahl, Raub und Prostitution. Und die Polizei hatte keine Chance, das zu unterbinden. In den Großstädten kriminalisierten sich viele der Obdachlosen. Giljarowskij schreibt:
„Die Behörden fanden immer wieder die Körper der Ermordeten und nahmen ihnen dann auch noch die Sachen ab.“
Zurück auf die Straße
Die meisten Bettler aber, die Flynt auf seinen Reisen traf, waren friedlich. Und oft konnten sie in die Dörfer gehen, wo sie den hart arbeitenden Bauern zur Hand gehen konnten.
„Für Menschen, die so weit gesunken sind, sind sie (die russischen Vagabunden) überraschend gutmütig. Ich hätte in jedem Dorf, das ich passierte, für mehrere Tage bleiben können. Das Leben der Bauern selbst ist so hart, dass es nur natürlich scheint, mit den noch Ärmeren Mitleid zu haben.“
Und das nutzten viele der Umherziehenden. Die Bettler seien, so Flynt, keineswegs zu schwach oder krank zum Arbeiten gewesen. Aber „sie hatten oft ein Weltbild für sich angenommen, in dem ein bestimmter Teil der Menschen einfach dazu vorbestimmt sei, in Armut und Traurigkeit zu leben“.
Am Ende siegt... Zar Alkohol
Als schlimmsten Feind der Bettler und Vagabunden nennen beide, der Journalist Flynt und der Schriftsteller Gorki, den Wodka. Er sei es, der es meistens verhindere, dass ein Bettler wieder in die Gesellschaft zurück finden könnte. Gorkis Protagonisten träumen zwar von einem besseren Leben, stecken jedoch gleichzeitig inmitten des Kreislaufs von Sucht und Suff, Armut und Kriminalität fest.
Bei den „echten“ Obdachlosen beobachtete Flynt dasselbe Phänomen:
„Zwei Drittel von ihnen könnten respektable Männer und Frauen sein, wenn sie nicht trinken würden. (...) eine stürmische Nacht im Wodkarausch... Wenn der letzte Tropfen ausgetrunken ist, fallen sie völlig bewusstlos seit über. Sie so zu sehen erscheint einem dann wie ein Blick in eine Leichenhalle.“
Und auch Flynt selbst trug schwere Folgen von seiner „Recherche“ davon: Zehn Jahre nach seiner Russlandreise starb er an einer Lungenentzündung, die jahrelanger starker Alkoholismus versucht haben muss. Sein Buch über seine Reisen mit de Obdachlosen konnte er dennoch beenden - die russischen Bettler waren natürlich auch dabei.
Wie Ausländer sonst noch Russland entdeckten? Das lesen Sie hier: