Die östliche Bedrohung
Mitte der zwanziger Jahre schon hielt die Sowjetunion die Welt in Atem. Die Kommunistische Internationale erklärte die Weltrevolution zu ihrem Hauptziel. Und die europäischen Regierungen machten sich schleunigst auf die Suche nach kommunistischen Spionen.
Im Jahr 1924 veröffentlichte der schottische Kommunist und Journalist John Campbell einen offenen Brief an die britische Armee. Darin forderte er die Soldaten auf, die Regierung im Falle eines Krieges zu stürzen. Der Brief verursachte Aufruhr: Die Labour-Regierung verhaftete Campbell, dieser aber widerrief und wurde freigelassen. Der linke Flügel war empört über Campbells Inhaftierung. Die Konservativen kritisierten, dass die Anklage fallen gelassen wurde. Sie entzogen der Regierung ihr Vertrauen. Kurz darauf folgten Neuwahlen.
„Alarm, Alarm! Die Sowjets kommen!“
Damals war ein wichtiges Handelsabkommen zwischen der UdSSR und Großbritannien in Arbeit, aber noch nicht ratifiziert. Die Regierungskrise legte es auf Eis.
Winston Churchill war damals ein aufstrebender Tory-Politiker. Die Sowjets wollten sich von Großbritannien Geld leihen, um ihre zerrüttete Wirtschaft wieder aufzubauen. Das Problem war, dass die Sowjetregierung die zaristischen Staatsschulden nicht bezahlen wollte, also mussten die Kommunisten einen Kompromiss finden. Sie haben auch verstanden, dass sich die Beziehungen zwischen der UK und der UdSSR schnell verschlechtern würden, wenn die Labour-Regierung zurücktritt. Churchill trat eloquent auf, aber legte kaum Wert auf die die Aussicht, Freundschaft mit den Sowjets zu schließen.
Fünf Tage vor den Parlamentswahlen veröffentlichte die Tageszeitung Daily Mail einen Brief – angeblich von Grigori Sinowjew (1883 - 1936), Oberhaupt der Kommunistischen Internationale (Komintern) und unter Kamenew und Stalin einer der drei obersten sowjetischen Funktionäre. Der Brief forderte die britischen Kommunisten auf, ihre subversive Tätigkeit zu intensivieren:
"Die militärische Sektion der britischen kommunistischen Partei, leidet unseres Wissens weiter unter einem Mangel an Spezialisten und zukünftigen Anführern für die britische Rote Armee. Es ist an der Zeit, eine solche Gruppe zu bilden, die zusammen mit den Führern das Gehirn der militärischen Organisation der Partei sein könnte. "
Der Brief wurde am 2. Oktober von einem ortsansässigen Spion in Riga an MI-6 geschickt. Eine beigefügte Notiz besagte, dass "die Echtheit des Dokuments unzweifelhaft ist". Später wurde es als kluge Täuschung entlarvt. Der Geheimdienst hatte sich aber nicht einmal die Mühe gemacht das zu überprüfen: Der Inhalt des Briefes war so schockierend, dass MI-6 ihn sofort an alle Regierungs- und Militärbehörden schickte und damit große Panik auslöste.
Konflikt gelöst, Rätsel nicht
Am selben Tag richtete das britische Außenministerium eine Protestnote an den sowjetischen Botschafter Christian Rakowskij in London. In der Note hieß es, die britische Regierung betrachte den Brief als direkte Einmischung in die britischen inneren Angelegenheiten. Verblüfft kontaktierte Rakowskij Moskau.
Sinowjew bestritt entschieden, den Brief geschrieben zu haben. Natürlich wäre es eine unlogische Maßnahme gewesen, die diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien zu ruinieren, da doch die UdSSR so dringend den Kredit benötigte. Der britische Geheimdienst, der die gesamte sowjetische Geheimdienstkorrespondenz überwachte, wusste doch sicher, dass der Brief gefälscht war. MI-6 erfuhr, dass die Sowjets selbst nach dem Autor suchten. Aber wie kam das Dokument in die Hände der Daily Mail?
Don Gregory vom britischen Außenamt überreichte Rakowskij die Protestnote ohne eine Genehmigung von Premierminister Ramsay MacDonald. Gregory soll Geldprobleme gehabt haben, und dann entdeckten britische Historiker, dass Gregorys Scheckbuch nach der Veröffentlichung des Fake-Briefes immer dicker wurde. Offenbar hatte er den Brief an Journalisten verkauft, oder vielleicht an die Tories, die vom Sturz der MacDonald-Regierung profitieren sollten.
Bei der Wahl setzten sich die Tories wirklich gegen die Labour-Regierung durch. Aber der Brief wirkte noch viel weiter: Die Beziehungen und gegenseitigen Interessen beider Länder mussten reduziert werden. Am Ende machten die Sowjets eine undenkbare Sache: Im November 1924 ließen sie eine Gruppe britischer Arbeiter in das geheime Material der Komintern schauen.
Sie sahen zwar nicht alles, aber genug, um ihre Anklage fallen zu lassen. Der Konflikt wurde beigelegt. Das Handelsabkommen wurde dann jedoch auch von der neuen Regierung von Stanley Baldwin nicht ratifiziert.
Wer hat den Brief geschrieben?
Im Jahr 1998 beauftragte der britische Labour-Politiker Robin Cook die Historiker des Foreign and Commonwealth Office mit der Erstellung eines historischen Memorandums über den Sinowjew-Brief, das auf Archivdokumenten basierte. Im Jahr 1999 präsentierte die Historikerin Gill Bennett, die in russischen und britischen Archiven zu diesem Thema arbeitete, ihren Bericht, der bewies, dass der Brief eine Fälschung war. Aber auch sie beantwortete nicht schlüssig, wer ihn geschrieben hatte, und machte nur Vermutungen. Womöglich hatten ihn Emigranten geschrieben wurde, die enge Beziehungen zu britischen Geheimdienstlern hatten. In der Tat haben damals viele ihren Lebensunterhalt damit verdient, sowjetische Dokumente zu fälschen.
Im Jahr 2011 übergab der Historiker Jonathan Pile den gefälschten Brief an George Ball, einen langjährigen MI5-Offizier. Im Jahr 2017 räumte die britische Regierung dann ein, dass sie den Brief "verlegt" habe. Ob jemals Kopien des Originals angefertigt wurden oder nicht, ist nicht überliefert.
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