Im Jahr 1978 ereignete sich ein amüsanter Vorfall in der Sowjetunion. Die Kommunistische Partei hatte die Homosexuelle Aktion Westberlin ins Land eingeladen. Sie war fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine linke Organisation, die mit der UdSSR sympathisierte, handelte. Wie Sie sich vorstellen können, sorgte dies für einiges Stirnrunzeln.
“Wir haben es irgendwie erfahren“, erinnert sich (rus) Larisa Beltser-Lisjutkina, die damals am Institut der Internationalen Arbeiterbewegung beschäftigt war. Letztendlich musste den Deutschen die Wahrheit gesagt werden, nämlich, dass es sehr gefährlich ist, in der UdSSR schwul zu sein. Die Mitglieder der Aktion kehrten glücklicherweise unversehrt nach Hause zurück. Homosexuelle Sowjetbürger, die das Land nicht verlassen konnten, hatten weitaus mehr Probleme.
Die gute alte Zeit nach der Revolution
Dabei hatten die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft der Homosexuellen in Russland und der sowjetischen Führung gut angefangen. 1917, unmittelbar nach der Oktoberrevolution, schafften die Bolschewiki die im Russischen Reich bestehende strafrechtliche Verfolgung männlicher Homosexueller ab.
Im Jahr 1923 veröffentlichte Dr. Grigory Batkis, Dozent am Institut für Sozialhygiene der Universität von Moskau, einen Artikel über „Die sexuelle Revolution in Russland“. Darin schrieb er: „Die sowjetische Gesetzgebung macht keinen Unterschied zwischen Homosexualität und dem sogenannten ‚natürlichen‘ Verkehr. Alle Formen des Geschlechtsverkehrs werden als persönliche Angelegenheit behandelt. Die strafrechtliche Verfolgung wird nur in Fällen von Gewalt, Missbrauch oder Verletzung der Interessen anderer durchgeführt.“ Aber das sollte sich schnell ändern.
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Stalin gegen die Homosexuellen
1934 kriminalisierte die Regierung die männliche Homosexualität erneut. Genau wie das alte Regime ignorierte die UdSSR den Lesbianismus und konzentrierte sich nur auf schwule Männer. Der Grund? Heinrich Jagoda, Leiter des sowjetischen Innenministeriums, schrieb (eng) an Stalin, dass homosexuelle Spione „ein Netzwerk von Salons, Nestern, Gruppen und andere päderastische Organisationen aufbauen, um aus ihnen Spionagezellen zu machen.“
Es ist unklar, ob es eine solche Bedrohung tatsächlich gab, doch Stalin reagierte auf seine gewohnt brutale Art und Weise, indem er die männliche Homosexualität 1934 erneut kriminalisierte und den berüchtigten Artikel 121 des Strafgesetzbuchs umsetzte, der fünf Jahre Haft vorsah.
Die revolutionären Freiheiten der 1920er Jahre waren vorbei, als Stalin seine imperialistische Autokratie ausbaute und ihr schwule Menschen zum Opfer fielen.
Die offizielle Propaganda verband Homosexualität mit Faschismus. Der Schriftsteller Maxim Gorki erklärte (rus): „In Deutschland ist Homosexualität legal ... es gibt sogar ein sarkastisches Sprichwort: Zerstöre Homosexuelle und der Faschismus wird verschwinden.“ Einige Jahre später begann Adolf Hitler Homosexuelle zu verfolgen, doch das änderte nichts an der Meinung der Sowjetregierung: Schwule galten als Feind.
Statistische Probleme
Wie viele Menschen zu Stalins Zeit wegen Homosexualität inhaftiert waren, ist nicht genau belegt. Die vorhandenen Daten aus den Archiven des Innenministeriums aus den Jahren zwischen 1934 und 1950 geben darüber keinen exakten Aufschluss, schreibt der Historiker Dan Healey in seinem Buch „Homosexuelles Verlangen im revolutionären Russland“.
Oft wurde die Homosexualität als Grund der Verurteilung von den Gerichten nicht offen ausgesprochen. Man konnte homosexuell sein und war sich bewusst, dass man deshalb verfolgt wurde, doch ging man aus einem völlig anderen Grund ins Gefängnis. Auch nach Stalins Tod setzten die sowjetischen Behörden den harten Kurs gegen Homosexuelle fort. „In den uns vorliegenden Quellen ist die Rede von einer Zahl von Gefängnisstrafen von 1934 bis 1993 zwischen 25 688 und 26 076, aber diese Zahlen sind alles andere als schlüssig", schreibt Healey.
Sowjetische Schwulenverstecke
Für den durchschnittlichen sowjetischen Homosexuellen bedeutete das, in Angst zu leben, von der Gesellschaft verachtet zu werden und sich verstecken zu müssen. Sie existierten im Verborgenen und trafen sich an besonderen Orten, vom Bolschoi-Theater bis zu öffentlichen Toiletten. „Die Lebensbedingungen waren eine Zumutung", erinnert sich Alexander, 58, ein Homosexueller, der in der UdSSR lebte. „Wohin konnten wir gehen? Man lebte noch bei den Eltern. Man konnte nicht einfach eine Wohnung mieten oder ein Hotelzimmer buchen. Das war nur Geschäftsreisenden möglich."
Eine weitere Gefahr ging von den Remontniki [zu Deutsch „Reparateuren“] aus, aggressiven und homophoben Personen, die sich als homosexuell ausgaben, um sich mit Schwulen zu treffen und diese dann brutal zusammenschlugen oder erpressten. Häufig mussten Schwule ihre Rechte kämpferisch verteidigen. Viktor, 66, erinnert sich: „In den 70er Jahren konnten unsere Jungs wirklich damit umgehen. Einmal griff uns eine Gruppe von sieben Männern an, aber wir haben es ihnen gezeigt. Ich habe einem eine Bierflasche auf dem Kopf zerschlagen…“
Wie war das mit Artikel 121? „Es war nicht leicht, einen Mann aufgrund dieses Gesetzes ins Gefängnis zu stecken“, erinnert sich Viktor. “„Sie mussten ihn am „Tatort“ erwischen… Aber sie konnten natürlich Deinen Arbeitgeber informieren, Dich an einem Homosexuellen-Treffpunkt gesehen zu haben und das gab eine Menge Ärger.“ Dennoch hatten viele kein Glück und mussten ins Gefängnis: „Ich schätze, dass in Moskau jedes Jahr rund 50 Personen verhaftet wurden“, sagt Alexander.
Erst 1993, nach dem Zusammenbruch der UdSSR , wurde Artikel 121 von der russischen Regierung abgeschafft. Das bedeutet jedoch nicht, dass Russland nun ein LGBT-Paradies ist. Aber zumindest muss niemand mehr Angst haben, wegen seiner sexuellen Orientierung eingesperrt zu werden.
Die Zitate der Homosexuellen stammen aus dem Buch „Rechtes Ohr: Monologe von Schwulen, die in der UdSSR lebten“.