Wie die Sexualaufklärung für russische Kinder im 20. Jahrhundert ausgesehen hat

Leonid Gaidai/Mosfilm, 1965
Woher die Sprösslinge der Adligen über den Liebesakt erfuhren und ob es in der UdSSR trotz gegenläufiger Aussagen Sex gab.

Die russische Online-Plattform Mel veröffentlichte den Longread 100 Jahre ohne Sex: Die Geschichte der sexuellen Erziehung im 20. Jahrhundert (rus). Wir haben seinen Inhalt zusammengefasst.

1900 – 1917. Moral als Verteidigung gegen das Laster

Vor der Revolution von 1917 sammelten die adligen Kinder ihre ersten sexuellen Erfahrungen bei den Hausangestellten. Diese brachten den jungen Männern das Masturbieren bei und viele Jünglinge hatten sogar mit ihnen ihre erste sexuelle Erfahrung.

Die physiologische Erziehung zielte darauf ab, die frühe Entwicklung des Sexualtriebs zu bekämpfen. Bis zum vierzehnten Lebensjahr wurde Kindern die Fortpflanzung nur anhand von Beispielen aus der Zoologie erklärt, ab 15 Jahren führten dann Lehrer Gespräche über die Gefahren von Geschlechtskrankheiten und sexuellen Beziehungen vor der Ehe.

Man ging davon aus, dass Mädchen über das Thema überhaupt nicht sprechen sollten, um ihre jungfräulichen Seelen nicht zu gefährden. „Die Moral ist als Mittel gegen das Laster oft viel wichtiger, als das Wissen über die Physiologie“, schrieb der Lehrer Alexej Butowskij 1910 in einer Broschüre über Körpererziehung.

Zwanzigerjahre. Sexuelle Revolution – aber nicht für jeden

Nach der Revolution von 1917 brach die Zeit der freien Liebe an: Abtreibungen wurden erlaubt, Homosexualität war nicht länger mehr ein Verbrechen und es war sogar die Rede davon, die Institution der Ehe abzuschaffen.

Der sowjetische Sexualforscher Igor Kon schrieb, dass in Petrograd 1923 bei den Arbeitern unter 18 Jahren 47 % der jungen Männer und 67 % der Mädchen bereits sexuelle Erfahrung gesammelt hatten.

Die Regierung war jedoch konservativ und befürwortete die Enthaltung vor der Ehe und veröffentlichte Broschüren über die Gefahren häufigen Geschlechtsverkehrs und den Mythos der schrecklichen Folgen von Onanismus.

Die Eltern vermieden es, mit Kindern über Sex zu reden. Jugendliche bezogen ihr Wissen von ihren Altersgenossen und aus der Trivialliteratur, in der es viele primitive Sexszenen gab, die für die Proletarier verständlich waren.

1930 – 1985. Es gibt keinen Sex in der UdSSR

„Sexuelle Promiskuität“ wurde als Relikt des Kapitalismus und daher als unzulässig angesehen. Die gesamten Verbote in allen Bereichen der UdSSR betrafen auch das Geschlecht: Abtreibungen wurden wieder verboten (und 1955 wieder erlaubt) und männliche Homosexualität sowie der Besitz von pornografischem Material (als das jede Darstellung der Sexualorgane galt) strafrechtlich verfolgt.

Die Erwähnungen des Geschlechtsverkehrs waren verpönt – dieses Thema wurde nicht nur von Zeitschriften, sondern sogar von seriösen sowjetischen Enzyklopädien vermieden. Es wurde empfohlen, mit Kindern über Moral zu sprechen, und die wichtigste Botschaft der Sexualerziehung bestand darin, das entstehende sexuelle Interesse durch soziale Arbeit, Sport und Lesen zu ersetzen.

Achtziger- bis Neunzigerjahre. Sexuelle Aufklärung

Mitte der Achtzigerjahre führten die Schulen Sexualkunde und den Unterricht zum Familienleben ein, aber die Lehrer fanden keine anständigen Wörter für das Thema, das so lange vertuscht worden war und oft weiter vermieden wurde.

Während der Staat sich zurückhielt, entstanden öffentliche Organisationen zur Bekämpfung von AIDS und sexuell übertragbaren Krankheiten und sogar das Bildungszentrum für die Sexualkultur von Jugendlichen. 1989 wurde die russische Übersetzung der französischen Enzyklopädie des Sexuallebens für Kinder zwischen sieben und neun Jahren veröffentlicht.

In den Neunzigerjahren tauchten die ersten erotischen Szenen im Fernsehen und in Filmen auf, und die Teenager-Presse begann, Fragen zu Sex und intimen Beziehungen zu diskutieren. In den Jugendmagazinen Cool und Bravo gab es Rubriken, die Antworten auf die intimen Fragen der Leser veröffentlichten. 1996 erschien die Zeitschrift 16, die sich ausschließlich dem Sex widmete. Etwa ein Drittel der Jugendlichen erhielt Informationen aus Zeitschriften, für die es keine Tabuthemen gab. Darüber hinaus verurteilten die Medien nicht länger den Sex vor der Ehe und empfahlen Verhütungsmittel und Tampons.

Zweitausenderjahre. Der Sex geht online

Mit der Verbreitung des Internets steht den Jugendlichen die gesamte Cyber-Welt zur Verfügung: Von nun an können Sie alles googeln und der Zugriff auf Informationen ist problemlos möglich.

Gleichzeitig vermeiden Printmedien und das Fernsehen das Thema Sex erneut. Die Rubriken zu diesem Thema sind in vielen Jugendzeitschriften um die Mitte des vergangenen Jahrzehnts wieder verschwunden. Die verbliebenen Publikationen wurden stark gekürzt und sind seitdem weniger freimütig.

>>> Sowjetisches Bildungssystem: Was ein Kind in der UdSSR lernen musste

>>> Ohne Bienchen und Blümchen: Warum einige Russen keinen Sex wollen

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