Post-revolutionäres Russland: Eine Gesellschaft geprägt von Sex und Tod

Alexander Saverkin/TASS
In den post-revolutionären Jahren in Russland waren Selbstmord und freie Liebe in Mode. Der bekannte Schriftsteller Dmitri Bykow hat eine Anthologie erstellt, in der er die Beziehung von Sex und Tod erforscht, wobei er sich auf Werke jener Zeit stützt.

Die Epoche, die einem gewaltigen Umbruch folgt, bringt stets nur Enttäuschung und zerbrochene Illusionen hervor. Das post-revolutionäre Russland der 1920er Jahre war laut Dmitrij Bykow keine Ausnahme. Das erste Jahrzehnt der Zwischenkriegszeit brachte keine neuen Genres oder Helden hervor, sondern erntete nur die Früchte des Silbernen Zeitalters der russischen Literatur und der Avantgarde der Kunst. Nach der Sparpolitik des „Kriegskommunismus“ versprach die Neue Ökonomische Politik (NEP) eine Lockerung der wirtschaftlichen Härte und verursachte damit den Start eines ausschweifenden Lebensstils.

„In der Ehe und den sexuellen Beziehungen nähert sich eine Revolution im Einklang mit der proletarischen“, erinnerte sich die berühmte deutsche Marxistin Clara Zetkin an Wladimir Lenins Worte. Doch die traurige Wahrheit ist, dass die sexuelle Revolution statt – und nicht zusammen mit – ihrem proletarischen Gegenstück stattfand.

Die Ehe in der Sowjetunion: Die Grundlage der Gesellschaft oder die Befriedigung von Instinkten?
Während der revolutionären Zeitspanne „entstanden die ehelichen Beziehungen als ein Nebenprodukt, um ein rein biologisches Bedürfnis zu befriedigen“, schrieb die Revolutionärin und Diplomatin Alexandra Kollontai. Darüber hinaus waren beide Seiten bestrebt, sich so schnell wie möglich um dieses Erfordernis zu kümmern, um zu verhindern, dass es die „Arbeit für die Revolution“ stört.
Die Neue Ökonomische Politik konnte auch die traditionelle Familie nicht wiederherstellen. Im Gegenteil, denn Bykow schreibt, dass „sexuelle Bedürfnisse ohne Prüderie befriedigt wurden“.
Später erwies sich die sowjetische Elite jedoch als sittenstreng. Anatoli Lunatscharski, Volkskommissar für Bildung, schrieb, dass „...in unserer Gesellschaft die einzig korrekte Form der Familie auf dem traditionellen Paar basiert“, und Leo Trotzki argumentierte, dass die Partei als Beschützerin der moralischen Reinheit agieren sollte.

Wohin führt die freie Liebe?

Die Idee der freien Liebe wurde modisch und ein Symbol der Ära. Sexuelle Gelüste wurden mit Hunger gleichgesetzt, den die Menschen ohne Gewissenskonflikte oder moralischem Händeringen befriedigen. Die Liebe legte ihren romantischen Schleier sowie ihre Sittsamkeit und Balzrituale ab.

Alexei Tolstoi beispielsweise beschreibt in seiner Erzählung „Die Viper“ aus dem Jahr 1928 die Leichtigkeit, mit der Grundbedürfnisse befriedigt werden können, als ein Zeichen der Zeit. Der stellvertretende Leiter des Betriebs, in dem die weibliche Protagonistin arbeitet, nimmt sie zur Seite und sagt: „Sexuelles Verlangen ist eine reale Tatsache und ein natürliches Bedürfnis.“ Er schlägt vor, jegliche Romantik abzulegen und fährt fort, sie energisch überzeugen zu wollen. Sie schaffte es jedoch zu widerstehen.

In der Praxis verwandelte sich die freie Liebe in eine Reihe von Skandalen und Enttäuschungen. Männer waren nicht darauf vorbereitet, dass Frauen selbst Partner wählen würden, und Frauen ihrerseits waren durch das fehlende Umwerben verärgert.

Doch die Experimente mit dem traditionellen Familienbegriff gingen weiter. Die Theoretiker des russischen Symbolismus, Dmitri Mereschkowski und Sinaida Hippius, begannen mit dem Literaturkritiker und Publizist Dmitri Filossofow ein offenes Dreiecksverhältnis. Der Dichter Wladimir Majakowski tat das Gleiche mit seiner Muse Lilja Brik und ihrem Mann Ossip.

Ossip und Lilja Brik mit Wladimir Majakowski

Verdorbenheit und Langeweile

Frühe Übersättigung führt zu Langeweile, Einsamkeit und dass man Risiken mit dem eigenen Leben eingeht, behauptet Dmitry Bykow. Nachdem bereits alles in einem frühen Alter erlebt worden ist, wird der Tod als die einzige akute Empfindung wahrgenommen, die es noch zu erleben gilt.
Gleb Alexeews „Der Fall des Leichnams“ ist in Form eines Tagebuchs geschrieben, das von einem Mädchen namens Schura Golubewa geführt wird, welches aufgrund unerwiderter Liebe Selbstmord begeht. Die Geschichte handelt jedoch nicht von Liebe oder Tod, sondern von Langeweile und kultureller Leere. Schura bringt sich nicht um, weil sie verliebt ist, sondern weil sie nichts anderes zu tun hat.

„In diesem Sinne erwies sich das post-revolutionäre russische Leben als wesentlich schlechter als das vorrevolutionäre, das es ersetzte“, schreibt Bykow. Die Studenten der Jahrhundertwende hatten große Hoffnungen und revolutionäre Bestrebungen, aber die „roten“ Studenten der 1920er Jahre oder die Fabrikarbeiter konnten nur sich selbst erschießen: „Sie hatten schon alles andere ausprobiert und es waren noch etliche Waffen im Umlauf.“

In seiner Geschichte „Die Flut“ von 1929 spricht Jewgeni Samjatin vom totalen Verlust des Individuums. Zusammen mit erotischem Wahnsinn und einer Suizid-Epidemie war eines der Kennzeichen der späten NEP-Periode grassierende Kriminalität. Die etwa 40 Jahre alte Protagonistin Sofia tötet ihre Nachbarin Ganka, einfach weil sie jung, schön und wohlhabend ist. Ihr eigenes Leben ist vorbei, also sollte es auch ihrer Nachbarin so ergehen.

Bykow glaubt, dass die folgenden zwei Sätze von Samjatin die Atmosphäre der Ära am besten beschreiben: „Die ganze Nacht schlug der Wind von der Küste her gegen das Fenster, das Glas klapperte, und das Wasser in der Newa stieg. Und während der ganzen Zeit stieg auch das Blut an, als wäre es durch unterirdische Venen mit der Newa verbunden.“

>>> Wie Avantgarde-Künstler den öffentlichen Raum der sowjetischen Städte eroberten 

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.

Weiterlesen

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!