Bruch alter Traditionen: Ein kinderloses Leben in Russland

Legion Media
Da die konservativen Werte und Familienvorstellungen in Russland immer noch dominieren, werden diejenigen, die einen anderen Weg gehen, als Außenseiter behandelt. Wie ist es also, in Russland kinderlos zu sein?

„Was ist denn mit dir los? Babys sind doch süß. Willst du keine Kinder?“ Diese Art von Fragen an eine kinderlose Frau wäre in westlichen Ländern tabu, ist in Russland jedoch durchaus noch üblich.

„Kinder schränken die Karriere- und Bildungschancen stark ein aber diese Tatsache bringt mich in keinen inneren Zwiespalt, teilte die russische Wissenschaftsjournalistin Asja Kasanzewa im August auf Facebook (rus) mit.

Asja Kasanzewa

In ihrem Beitrag bezog sie sich auf eine Werbung von Perekrestok, einer russischen Einzelhandelskette, die Stellenangebote in ihren Supermärkten als gute Option für berufstätige Mütter bewarb.

„Meine Mutter ist berühmt!“, sagt eine Kinderstimme. „Alle grüßen sie und lächeln ihr zu.“

„Ich habe mich für die Arbeit bei Perekrestok entschieden, weil sich der Arbeitsplatz in der Nähe meines Wohnsitzes befindet und ich vier Stunden am Tag arbeiten und mehr Zeit mit meiner Tochter verbringen kann“, sagt die Frau.

„Sie hätte... auf eine Universität gehen, wissenschaftliche Journalistin werden... Bücher veröffentlichen... in Oxford promovieren können. Aber stattdessen bekam sie ein Kind und arbeitet nun vier Stunden pro Tag als Kassiererin bei Perekrestok“, kommentiert Kasanzewa die Werbung.

„Unbewusste Schuld“

In einem riesigen Land mit einer relativ kleinen Bevölkerung ist es fast ein Verbrechen, kein Kind zu bekommen. Die Bevölkerung Russlands beträgt 146 Millionen, die Bevölkerung der Vereinigten Staaten im Vergleich 325 Millionen Menschen. Die Regierung hat aus diesem Grund finanzielle Hilfsmaßnahmen wie Kinderzuschläge oder das sogenannte „Mutterschaftskapital“ geschaffen, um Menschen zu ermutigen, ein drittes Kind zu bekommen.

Im August gab Präsident Wladimir Putin zudem bekannt, dass Mütter, die mehr als fünf Kinder zur Welt bringen, im Alter von 50 Jahren in Rente gehen können. Es bleibt jedoch fraglich, ob die Mütter mit so vielen Kindern und später dann Enkelkindern überhaupt dazu kommen, sich auszuruhen.

Der Beitrag von Kasanzewa hat in den sozialen Medien jedenfalls für Furore gesorgt und viele Negativkommentare von Menschen erhalten, die nicht ihrer Meinung sind.

„Es handelt sich um eine Demonstration unbewusster Schuld“, schreibt der Nutzer Denis Niwikow. „Ich habe keine Kinder, aber nicht, weil ich nicht will, sondern aufgrund meiner Karriere!“

Soziale Außenseiter oder Systemkritiker?

Im Jahr 2015 veröffentlichten Forscher der Staatlichen Universität Astrachan eine Studie (rus) über die kinderlose Personengruppe. Sie fanden heraus, dass es bei Russen, neben den international üblichen Gründen für ihre Entscheidung, auch bestimmte nationale Merkmale gibt.

„Die Studie enthüllt eine negative Einstellung zu diesem Phänomen“, schreiben die Forscher. „Diejenigen, die eine entsprechende Entscheidung getroffen haben, stellen sich oft fälschlicherweise als eine besondere Gruppe hin, die sich aufgrund ihrer Exklusivität qualitativ von anderen unterscheidet. ‚Kinderfreie‘ Ideologen stellen in Wirklichkeit jedoch eine Minderheit dar und sind oftmals sozial und privat isoliert.“

Einige russische kinderlose Erwachsene sind aber auch Meinungsführer und Influenzer. Sie versuchen, die Sicht der Gesellschaft auf kinderlose Menschen zu ändern. Rita Nesterez, ein 29 Jahre altes Model und Star auf Instagram sowie Veganerin und Rohkostanhängerin, steht offen dazu, dass sie keine Kinder haben möchte.

„Ich mag Kinder, aber ich war nie daran interessiert, eigene zu bekommen. Früher habe ich nicht verstanden, warum, aber jetzt kann ich es erklären“, sagt Nesterez und fügt hinzu, dass Kinder Teil des Systems sind.

„Man wird geboren, muss eine Ausbildung machen, einen Job finden, Kinder kriegen und schließlich die ganze Energie in ihre Erziehung stecken“, erklärt Rita.

„Ich habe seit über 20 Jahren kein Fleisch mehr gegessen und anfangs reagierten die Leute negativ, aber mit der Zeit änderte sich ihre Einstellung. Wir leben in einer Gesellschaft, die viel Druck auf diejenigen ausübt, die anders fühlen oder denken.“

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