Heutzutage wird der 1. Mai in Russland vor allem mit drei oder vier (und manchmal, so wie in diesem Jahr, sogar fünf) freien Tagen, Grillen im Garten und Kurzurlaub im Ausland (von diejenigen, die es sich leisten können) assoziiert – es ist eine Art landesweite Kurz-Feriensaison. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts war das noch ganz anders: An den Demonstrationen zum 1. Mai nahmen Arbeiter teil, die faire Arbeitsbedingungen forderten und oft Gefahr liefen, erschossen zu werden.
Der 1. Mai entwickelte sich nach der Tragödie auf dem Haymarket in Chicago zu einem internationalen Tag der Arbeit. 1886 fanden Anfang Mai in Chicago, wie auch in anderen Städten der USA, Demonstrationen mit der Forderung nach einem 8-Stunden-Arbeitstag statt: Heute scheint dieser selbstverständlich zu sein, aber am Ende des 19. Jahrhunderts wollten viele Wirtschaftsmagnaten den Arbeitern diese Freiheit nicht gewähren.
„Kein einziges Ereignis hat die Geschichte der Arbeit in Illinois, den Vereinigten Staaten und sogar in der ganzen Welt stärker beeinflusst als die Chicago-Haymarket-Affäre“, schrieb (eng) William J. Adelman. Am 4. Mai 1886 kamen bei einem Zusammenstoß zwischen Arbeitern und der Polizei vier Arbeiter und sieben Polizisten zu Tode, woraufhin das dortige Gericht fünf Aktivisten an den Galgen schickte, obwohl ihre Beteiligung an der gewalttätigen Auseinandersetzung nicht nachgewiesen worden war. Drei Jahre später erkannte die Pariser Konferenz, auf der sich Gewerkschaftsdelegierte aus der ganzen Welt trafen, zum Gedenken an die Toten in Chicago den 1. Mai als Tag der Arbeit an.
In Russland, wo die Arbeiterbewegung erst im späten 19./frühen 20. Jahrhundert zu entstehen begann, war der Kampf zwischen den Arbeitern und der Staatsmacht oft ein Kampf auf Leben und Tod. Vor jedem 1. Mai, insbesondere nach der gescheiterten Revolution von 1905, befürchtete die Regierung Massenstreiks und gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei und traf deshalb strenge Sicherheitsmaßnahmen. Die Revolutionäre ihrerseits verteilten Flugblätter, in denen die Arbeiter aufgefordert wurden, gegen ihre Herren und den Zaren zu rebellieren.
Die 1.-Mai-Demonstration auf dem Putilow-Werk von Boris Kustodijew, 1906
Boris KustodijewNatürlich war im Russischen Reich der 1. Mai kein Feiertag: Die Fabrikbesitzer drohten den Arbeitnehmern mit Entlassung, wenn sie an diesem Tag nicht zur Arbeit kamen, um an der Demonstration teilzunehmen. Diese ließen sich jedoch nicht einschüchtern – bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nahmen die Mai-Demonstrationen und Streiks an Umfang zu. Die Menschen forderten einen Acht-Stunden-Arbeitstag und den Sturz der Autokratie.
Im Jahr 1914, einige Monate vor dem Krieg, waren die Mai-Konflikte besonders heftig. „Um 16.00 Uhr..... wurde das rote Banner gehisst und auf dem Lubjanka-Platz erschallten revolutionäre Lieder. Damals gingen große Truppen wütender Gendarmen und Hilfspolizisten gegen die Demonstranten vor. Es kam zu einem Handgemenge, die Arbeiter begannen, die Gendarmen mir Steinen zu bewerfen“, zitiert (rus) die Rossijskaja Gaseta die Erinnerungen eines Zeitgenossen.
1917 wurde zuerst die Monarchie gestürzt und ein halbes Jahr später, während der Oktoberrevolution, kamen die Bolschewiki an die Macht. Der Status des 1. Mais änderte sich schlagartig: Aus dem verbotenen Feiertag wurde ein offizielles Fest. Wladimir Lenin selbst trat am ersten Maifeiertag auf und in den folgenden Jahren stand in der Hierarchie der Feiertage nur der Jahrestag der Revolution über dem 1. Mai.
Wladimir Lenin auf dem Roten Platz während der 1.-Mai-Demonstration im Jahr 1919
TASSIn den ersten Jahren war er ein Kampftag der Solidarität – das sozialistische Moskau forderte die Arbeiter auf der ganzen Welt auf, sich gegen den Kapitalismus zu erheben. „Bereitet euch auf eine große Schlacht vor, Genossen Arbeiter! Legt am 1. Mai die Arbeit in den Fabriken nieder oder greift zu den Waffen!“, rief (rus) Lenin im Zeitungsartikel Der 1. Mai auf. Allmählich jedoch rückte die Aussicht auf eine Weltrevolution in den Hintergrund und der 1. Mai verwandelte sich in einen klassischen Feiertag eines autoritären Landes – mit Paraden, Märschen und Lobpreisungen des weisen Führers.
Der erste Mai hatte jedoch immer eine unpolitische Dimension, weit entfernt von der Losung des Sieges des Kommunismus. Wie man es auch dreht, in den meisten Regionen Russlands beginnt erst Anfang Mai der warme Frühling, und die sowjetischen Bürger freuten sich zu Beginn der warmen Jahreszeit über einen freien Tag.
„Als ich ein Kind war, liebte ich den 1. Mai über alles. Es war der Tag, an dem ich mit Opa und Oma zur Demonstration ging: ein schönes Kleid, eine Fahne und Luftballons in der Hand, die fröhlichen Gesichter der Menschen um mich herum, Sonnenschein, der Opa mit seinem Fotoapparat...“, erinnert sich (rus) ein Mitglied der Gruppe Reportagen aus der sowjetischen Kindheit in den 70er Jahren.
Die 1.-Mai-Demonstration auf dem Roten Platz im Jahr 1970
TASSNoch immer wird der erste Mai trotz der Tatsache, dass die UdSSR seit 1991 nicht mehr existiert, als ein sehr sowjetischer Feiertag angesehen. „Die Leute sprachen nicht über die Solidarität der Arbeiter, sondern über die Solidarität mit den Eltern, darüber, wie Papa dich auf seinen Schultern auf dem Maiumzug trug oder darüber, wie Mama dich im Block der Fabrikarbeiter an der Hand führte“, schrieb (rus) der Journalist Victor Loschak über die Teilnehmer der traditionellen Demonstration im Jahr 2018. Klingt logisch: Heute, am 1. Mai, kämpft in Russland niemand mit der Polizei, und der Tag der Solidarität der Arbeiter hat sich von einem ideologischen Feiertag in einen gewöhnlichen Frühlingfeiertag verwandelt – eine gute Gelegenheit, mehrere Tage lang nicht zur Arbeit gehen zu müssen. Wer würde das wohl aufgeben wollen?
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