Stellen Sie sich vor, Sie sind ein etwa zwölfjähriges Kind in der Sowjetunion der späten 60er. Auch wenn die Kinofilme für Erwachsene teilweise großartig sind (Regisseure wie Tarkowski waren zu dieser Zeit bereits aktiv), sind sie für Kinder eher langweilig. Das sowjetische Kino zu dieser Zeit war definitiv kein Popcorn und Cola-Erlebnis. Mal ganz abgesehen davon, dass es ohnehin weder Popcorn noch Cola gab.
Dann plötzlich kommt ein Actionfilm in die Kinos, der alle Erwartungen übertrifft: Schießereien, Verfolgungsjagden, Mord und bekannte Schauspieler. Für sowjetische Kinder war das wie ein riesiger Spaß. Viele guckten den Film immer und immer wieder. Freilich stammte dieser nicht aus der Sowjetunion. Er kam aus Frankreich und hieß „Fantômas“. Selbst die Macher hatten nicht erwartet, dass ihre Produktion so erfolgreich werden würde.
Bond, Pseudo-Bond
Der Charakter des bösen Genies Fantômas tauchte erstmals in den 1900ern in den Romanen von Marcel Allain und Pierre Souvestre auf. Bis zu Souvestres Tod schrieben sie über 40 Bücher. Die meisten waren düster und grimmig und enthielten brutale Mordszenen. Es folgten zahlreiche, mehr oder weniger erfolgreiche Verfilmungen.
1964 nahm sich dann der Regisseur André Hunebelle dem Stoff an und veränderte ihn radikal. Hunebelle interpretierte Fantômas nicht als klassischen Detektivfilm, sondern als Actionkomödie und Bond-Parodie. Der Erfolg gab Hunebelle recht und stellte alle vorherigen Verfilmungen in den Schatten.
Der Held der Fantômas-Filme, Polizeiinspektor Juve, wird von dem Komiker Louis de Funès gespielt und als charmanter Volltrottel dargestellt. Der Bösewicht Fantômas wurde von Jean Marais verkörpert. Obwohl er mit seiner blauen Gummimaske aus heutiger Sicht eher dämlich aussieht, war der Film europaweit ein großer Erfolg und Hunebelle drehte zwei weitere Fortsetzungen. Die Story war dabei eigentlich immer dieselbe: Inspektor Juve und sein Team versuchen, Fantômas zu fangen; Fantômas versucht sie zu töten; beide Seiten stellen sich leicht dämlich an und scheitern.
1966 wurde der erste Teil dann auch in der Sowjetunion gezeigt.
Ein Nationalantiheld
„Insgesamt sahen mehr als 120 Millionen Menschen in der Sowjetunion die Fantômas-Filme“, schrieb (rus) die Rossiskaja Gazeta. Für sowjetische Verhältnisse eine riesige Zahl.
Der Kinderbuchautor Wiktor Dragunski erklärt den Erfolg der Reihe in seiner Kurzgeschichte Fantômas durch die Augen eines sowjetischen Kindes:
„Wow, was für ein Film! Er kann einen verrückt machen, ich verspreche es. Unsere Filme machen einfach keinen Spaß. Ein Dieb kommt in eine Polizeistation, stellt sich unter Tränen selbst, erzählt von seinem harten Leben und klaut am Ende vielleicht zwei Schläuche aus einer Feuerwache. So geht das dann zwei Stunden lang. Fantômas ist ganz anders. Es gibt Rätsel, Masken, Kämpfe und Abenteuer. Also begannen alle Jungs damit, die Abenteuer nachzuspielen.”
Tatsächlich gab es jedoch auch weniger wünschenswerte Nachahmer. Einige Monate nachdem die Filme Premiere feierten, wurde die Sowjetunion von Kleinkriminalität geradezu überflutet. Teenager und Kinder attackierten Schreibwaren- oder Tabakläden, zerbrachen Schaufenster und brannten Briefkästen ab. In der Nähe des Tatortes fand sich in der Regel ein Zettel mit dem Hinweis „Es war Fantômas!“
Ein weiterer beliebter Streich war es, zufällig ausgewählte Telefonnummern anzurufen und mit verstellter Stimme zu sagen: „Fantômas kommt sie in wenigen Minuten holen.“
Die Fantômas-Gang
Doch auch schwerere Verbrechen in der UdSSR wurden von Fantômas inspiriert. Wobei man sagen muss, dass die Täter Erwachsene waren, die die Filme und Hunebelle vermutlich nie gesehen haben. Mit ihren Strumpfmasken erinnerten sie aber dennoch an den französischen Leinwandschurken.
Gegründet wurde die sogenannte „Fantômas-Gang“ von 1968 von den Brüdern Wjatscheslaw und Wladimir Tolstopjatow in Rostow am Don, nahe der ukrainischen Grenze. „Fünf Jahre lang zirkulierten in der Stadt die wildesten Gerüchte über die Gang“, schrieb Staatsanwalt Nikolai Buslenko. „Es war nicht überraschend. Viele Menschen beobachteten, wie bewaffnete und maskierte Räuber Banken überfielen. Daher nannte man sie die Fantômas-Gang. Die ganze Stadt war kurz davor, in Panik auszubrechen.”
Eine Zeit lang war die Tolstopjatow-Bande durchaus erfolgreich. Sie raubten Läden und Banken aus und konnten mit der Beute flüchten. Die Summen waren jedoch nicht sehr hoch. Da es in der Sowjetunion nicht möglich war, als Privatperson Waffen zu kaufen, bastelten sie sich ihre Schusswaffen selbst. So töteten sie insgesamt drei Menschen.
Doch auch der Staat war gnadenlos. Als die Polizei 1973 vier Mitglieder der Fantômas-Gang erwischte, tötete sie einen davon bereits während der Untersuchungshaft. Drei weitere wurden zum Tode verurteilt.
Danach wurde es ruhig um Fantômas. Nach und nach tauchten neue Helden und Bösewichte auf.