Wie die Abschaffung der Leibeigenschaft der russischen Revolution den Weg bahnte

„Vorlesung des Manifests“ von Boris Kustodijew, 1907

„Vorlesung des Manifests“ von Boris Kustodijew, 1907

„Russische Geschichte in Bildern“ von I.N. Knebel
Die russische Reform zur Bauernbefreiung von 1861 führte im ganzen Land zu Unruhen. Wir erklären Schritt für Schritt, wie es dazu kam und warum die Bauern dennoch nicht wirklich frei waren.

Die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland dauerte Jahrzehnte - und war noch nicht einmal zur Revolution von 1917 richtig beendet. 

Die meisten Russen wissen bis heute nicht genau, welche tatsächlichen Konsequenzen die Bauernbefreiung letztlich hatte. Wir schauen hinter die Kulissen und klären auf. 

Ein Pulverfass  

Porträt von Nikolaus I.

Ab Mitte des 17. Jahrhunderts und bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 gehörten die russischen Bauern zu dem Stück Land, auf dem sie lebten. Sie konnten gekauft und verkauft werden. Ihre Rechte wurden häufig missachtet. 

Nach der Französischen Revolution, die die persönliche Freiheit als grundlegendes Menschenrecht proklamierte, musste die Leibeigenschaft abgeschafft werden. Nikolaus I. richtete neun geheime Komitees ein, die sich während seiner gesamten Regierungszeit von 1826 bis zu seinem Tod im Jahr 1855 damit befassten. 

Er verstand, dass den Bauern Land zurückgegeben werden musste und bat seinen Sohn Alexander II., sie nicht weiter ihres Besitzes zu berauben. Nikolaus I. nannte die Leibeigenschaft ein „Pulverfass”, auf dem der Staat saß. 

Die schlechteste Lösung  

Alexander II.

Nach der Regentschaft von Nikolaus I. gab es unter den russischen Bauern nur noch 37 Prozent  Leibeigene (etwa neun Millionen Menschen). Deren Grundherren befanden sich jedoch in einer anhaltenden finanziellen Krise. Zwei Drittel ihrer Ländereien waren an den Staat verkauft worden, sie machten keine Gewinne mehr.

Die Grundbesitzer wehrten sich daher verzweifelt gegen den Reformplan von 1857. Zwei Jahre später wurde der Plan zugunsten der Fronherren geändert. Den Bauern wurde zwar Freiheit, jedoch kein Land gegeben - das schlimmste Szenario. Das Manifest zur Bauernbefreiung wurde am 3. März 1861 unterzeichnet. 

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Die Reform schadete Bauern und Großgrundbesitzern  

Das Manifest

Die Bauern erlangten nun also persönliche Freiheit. Zur Selbstversorgung konnten sie vom Staat bis zu 3,5 Hektar Land pachten für einen jährlichen Zins von 5,6 Prozent. Dieses Land hatte der Staat zuvor von den Großgrundbesitzern gekauft, die die besten Ländereien für sich behielten und den Bauern nur unfruchtbare oder sumpfige Parzellen ließen. Die Bauern waren außerdem für 49 Jahre an ihr Stück Land gebunden. 

Die Freiheit für die Bauern bestand lediglich in einer neu eingerichteten kommunalen Selbstverwaltung. Ansonsten blieb ihr Leben unverändert. Auch die ehemaligen Fronherren kamen durch die Reform in Bedrängnis. 

Der Staat löste die Leibeigenen mit Anleihen ab, die zwar verkauft werden konnten, jedoch zu einem weitaus niedrigeren Preis als ihren Nennwert. Der Staat hätte für neun Millionen Leibeigene  902 Millionen Rubel zahlen müssen, behielt aber 316 Millionen von den Grundherren ein. Zum Vergleich: Der russische Staatshaushalt belief sich damals auf 311 Millionen Rubel.  

Iwan Turgenjew (rechts) in Baden-Baden

Konnten die Adeligen von dem Geld für ihr Land leben? Wer damals 300 Leibeigene hatte, galt als wohlhabend. Nach der Reform wären diese nur noch 30 000 Rubel wert gewesen. Eine Summe, mit der eine Adelsfamilie ihren verschwenderischen Lebensstil höchstens fünf oder sechs Jahre hätte aufrechterhalten können. Das Geld musste daher angelegt oder gespart werden. 

Die Reform war ökonomisch nicht sinnvoll  

„Bettler am Kirchenzaun“ von Sergei Winogradow

Sowjetische Geschichtsbücher sagen, die Leibeigenschaft hätte abgeschafft werden müssen, weil sie das Wirtschaftswachstum behinderte. Freie Bauern würden härter arbeiten. Leider stimmt das nicht.

Leibeigene wurden von ihren Grundherren mit körperlicher Züchtigung oder Strafgeldern zum Arbeiten angetrieben. Die Leibeigenen des Staates, die zwar persönlich frei waren, mussten nur Steuern abführen. Sie arbeiteten weniger und schlechter. Sie säten zum Beispiel 42 Prozent weniger aus und ihre Produktivität war um 16 Prozent geringer.  

Nach Steuersenkungen und der Einführung von begrenzten Arbeitstagen, Errungenschaften der Reform, arbeiteten die freien Bauern also weniger und nicht etwa mehr. Natürlich gab es einige, die sehr fleißig waren und es zu Wohlstand brachten, doch das war eine Minderheit.  

Die Reform führte zu zahlreichen Aufständen  

„Vorlesung des Manifests von 1861“ von Grigori Mjassojedow, 1873

Unmittelbar nach dem Manifest begannen viele Bauernunruhen. Im März 1861 wurden Armeeregimenter in neun (von 65) russische Gouvernements entsandt, um die Unruhen zu stoppen. Im April gab es in 29, im Mai in 38 Gouvernements Aufstände. Insgesamt waren es im Jahr 1861 etwa 1176 Revolten. Bis 1863 waren es über 2000, von denen über 700 von der Armee unterdrückt wurden. Dies war noch kein Bauernkrieg. 

Doch die Bauern litten unter dem hohen Preis, den sie für ihre Ländereien zahlen mussten. Bis 1906 mussten sie wegen des hohen Zinssatzes statt 54 Millionen Rubel 1,57 Milliarden geben, das Dreifache! Die Bauern verarmten und gingen auf der Suche nach lohnender Arbeit in die Städte. Dort, ohne ihr Land und ihre Familie, waren sie nur allzu bereit, sich gegen den Staat aufzulehnen, der sie aus ihrer Sicht beraubte. 

Verarmter Adel, verarmte Landbevölkerung  

„Bettler am Kirchenzaun“ von Sergei Winogradow

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Bolschewismus aufkam, war der russische Adel verarmt. Vom einstigen Vermögen war nichts mehr übrig und man hatte nie gelernt, durch eigener Hände Arbeit Geld zu verdienen. Für den neuen Staat war der Adel unnütz. Die ehemaligen Bauern bildeten nun die Arbeiterklasse, in der kommunistische Propaganda auf fruchtbaren Boden fiel.  

Es ist kein Wunder, dass es bei der ersten Verordnung der Sowjets um Grundbesitz ging. Lenin versprach, den Bauern ihr Land zurückzugeben. Das war am Ende jedoch auch ein leeres Versprechen. 

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