Wie reagierten die Russen auf die Ermordung von John F. Kennedy?

Robert Knudsen
In der UdSSR war das Kennedy-Attentat ein ziemlich großes Problem. Und es wurde auf jede nur erdenkliche Weise gelöst.

An diesem sonnigen Tag, dem 22. November 1963, bewegte sich die Autokolonne des 35. US-Präsidenten langsam entlang der Elm Street in Dallas, Texas. Das Dach des Autos wurde vorher entfernt, damit die Leute den von  ihnen gewählten Vertreter des Volkes sehen konnten. Nachdem Kennedy ein paar Worte mit seiner Frau Jacqueline gewechselt hatte, wandte er sich der Menge zu und winkte einem in der Nähe stehenden Kind. Im nächsten Augenblick, um 12:30 Uhr, trafen zwei der drei Schüsse aus dem 6. Stock eines Schulbuchlagers den Präsidenten und eine halbe Stunde später starb er im Krankenhaus.

Die Nachricht von der Ermordung des US-Präsidenten hat die Welt, einschließlich der Sowjetunion, geschockt. Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Nikita Chruschtschow, weckte einen Mitarbeiter: „Kennedy ist tot!“ Und laut einigen Quellen war das Erste, was er fragte: „Haben wir damit etwas zu tun?“

Sowjetische Befürchtungen  

Die unter solchen Umständen seltsame Frage Chruschtschows hatte ihre Berechtigung. Denn wie sich herausstellte, hatte der Angeklagte im Mordfall, Lee Harvey Oswald, Verbindungen zur UdSSR.

Dieser lebte zwei Jahre in dem Land, bat erfolglos um die sowjetische Staatsbürgerschaft, heiratete eine russische Frau, war desillusioniert vom sozialistischen System und kehrte 1962 in seine Heimat zurück. Nach der Nachricht vom Mord hielt der KGB eine Sondersitzung ab. 2017 wurden Geheimdienstberichte freigegeben, in denen es heißt, dass der Leiter der KGB-Residenz in New York, Oberst Boris Iwanow, seinen Stab versammelte und ihm mitgeteilt habe, dass das Kennedy-Attentat ein „Problem“ sei.

Das Gipfeltreffen in Wien am 4. Juni 1961 zwischen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy

Und man erwartete noch weitere Probleme. Unter Kennedy begannen beide Länder endlich, einen Weg aus dem langwierigen Kalten Krieg zu finden. Im Mai 1963 sagte Kennedy, als er über die UdSSR und die Vereinigten Staaten sprach: „Denn letztendlich ist unser grundlegendster gemeinsamer Nenner, dass wir alle diesen kleinen Planeten bewohnen. Wir alle atmen die gleiche Luft. Wir alle schätzen die Zukunft unserer Kinder. Und wir sind alle sterblich.“

Nun, da der Präsident tot war, glaubte die sowjetische Führung, dass die Situation von radikal antisowjetischen Kräften ausgenutzt werden könnte. Archivdokumente besagen, dass der Kreml „verwirrt und schockiert“ gewesen sei: „Die sowjetische Führung war besorgt, dass in Abwesenheit des Staatsoberhaupts [in den USA] ein unverantwortlicher General einen Raketenangriff auf die UdSSR durchführen könnte.

Die Glocken läuteten zu seinem Gedenken

Die Nachricht verbreitete sich umgehend und am Morgen wusste jeder in der Sowjetunion von Kennedys Mord. Jung, gutaussehend, reich und um Frieden mit der UdSSR bemüht – das sowjetische Volk liebte die Kennedys. Sein Mord rührte viele Menschen zu Tränen. „Die Glocken der Kirchen läuteten zum Gedenken an Präsident Kennedy“, erinnerte sich eine Quelle aus der damaligen CIA-Agentur in Russland.

Titelseite der sowjetischen Zeitung

Am 23. November 1963 erschien die Zeitung Nedelja mit einem ganzseitigen Porträt von Kennedy auf der Titelseite. Obwohl Fotos dieses Formats nur den Mitgliedern des Präsidiums des ZK der KPdSU zustanden, wurde der Beschluss vom Präsidium gebilligt – dort trauerte man um Kennedy.

In dem Buch Der Reformator Nikita Chruschtschow, den Erinnerungen des Sohnes Chruschtschows, heißt es, auch sein Vater habe um den ermordeten Präsidenten getrauert: Er fiel auf die Knie und schluchzte. Ja, John Kennedy war eine Hoffnung für die Sowjetunion, aber nach seinem Tod wurde er zu einem Problem.

Auf Distanz zu Oswald

Wie es sich aus den freigegebenen Dokumenten ergibt, die auf Berichten der US-Agentur in der UdSSR basieren, glaubte der Kreml, dass der Mord eine Verschwörung von Rechtsextremen gewesen sei. Diese waren mit der Politik der Kennedy-Regierung unzufrieden und wurden vom damaligen Vizepräsidenten Lyndon Johnson angeführt, der nach dem Mord an Kennedy zum Präsidenten der USA aufrückte. Diese Position fiel mit dem Untersuchungsergebnis von Earling Garrison, dem Staatsanwalt von New Orleans, aus dem Jahre 1966 zusammen. Nichtsdestotrotz war die Version, dass der Mord mit der UdSSR (und auch mit Kuba) in Verbindung stehe, in den USA sehr beliebt und wurde in den Medien aufgebauscht. In der Sowjetunion erkannte man, dass man sich verteidigen müsse.

Robert Kennedy und Lyndon B. Johnson

„Nur Wahnsinnige können glauben, dass Präsident Kennedy von ,linken Kräftenʻ in den Vereinigten Staaten, vertreten durch die Kommunistische Partei der USA, getötet worden sein könnte“, heißt es in einem der Dokumente des US-Justizministeriums über die Position der damaligen sowjetischen Führung.

Was Oswald betrifft, so nannte ihn die sowjetische Nomenklatura, einen „neurotischen Wahnsinnigen, der seinem Land und allen anderen gegenüber illoyal ist“. Der KGB führte eine Säuberungsaktion durch: Er beschlagnahmte Fotos von Oswald bei allen seinen Minsker Bekannten sowie seine Briefe, erinnert sich Professor Ernst Titowetz, der in den Sechzigerjahren Medizinstudent war und Oswald kannte.

Es wurde auch auch eine gemeinsame Erklärung des Außenministeriums und des KGB an die Presse vorbereitet, dass Oswald nie mit den Behörden in Verbindung gestanden habe und man nach den Mördern in den Vereinigten Staaten suchen müsse. In einem geheimen Begleitschreiben für das Politbüro wurde die Bereitschaft geäußert, alle Information über Lee Harvey Oswald in der UdSSR zur Verfügung zu stellen, falls eine solche Anfrage von den USA gestellt werden sollte. Aber die Erklärung wurde – nach Verhandlungen mit Lewellin Thompson, dem US-Botschafter in der UdSSR – nie veröffentlicht. „Es ist offensichtlich, dass die US-Regierung uns nicht in diese Angelegenheit hineinziehen will, es aber auch nicht zu einer Auseinandersetzung mit der extremen Rechten kommen lassen will; sie zieht es offensichtlich vor, diesen Fall schnell zu vergessen... Ich denke, dass in den zukünftigen Beiträgen unserer Presse dieser Punkt berücksichtigt werden sollte“, riet in einem Geheimschreiben Anastas Mikojan, das Staatsoberhaupt der Sowjetunion.

Lee Harvey Oswald mit seinen Kollegen in der Fabrik in Minsk

Schließlich kam eine Desinformation in Umlauf. In den Sechzigerjahren verbreiteten sowjetische Sicherheitsdienste Gerüchte über eine Verbindung der CIA mit dem Kennedy-Attentat und finanzierten den amerikanischen Anwalt Mark Lane, den Autor mehrerer skandalöser Bestseller über das Kennedy-Attentat (wie z.B. Rush to Judgment aus dem Jahre 1966) – die Bücher sprechen von einer Beteiligung der CIA und wurden zu einer der Hauptquellen für Verschwörungstheoretiker. Dies ist in den Dokumenten des Churchill Archives Centre ausführlich beschrieben.

All dies hat die Angriffe auf die Sowjets abgemildert. Ein Verschärfung der Kubakrise, die in der UdSSR so gefürchtet war, trat nicht ein. Im Laufe der nachfolgenden Ermittlungen wurden keine Beweise für die Beteiligung der Sowjets an dem Mord gefunden. 1999 übergab der russische Präsident Boris Jelzin in Köln dem US-Präsidenten Bill Clinton 80 Seiten aus einem geheimen sowjetischen Archiv – über Oswald und die Reaktion der Union auf den Mord. „Ich möchte Ihnen für dieses unerwartete und wichtige Geschenk danken“, sagte Clinton damals.

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