Wir haben Dutzende Frontberichte von Rotarmisten gelesen und können uns nun annähernd vorstellen, wie sich die Hölle von Stalingrad angefühlt haben muss für einen einfachen Soldaten, der diesen nicht wollenden Alptraum Tag für Tag durchleben musste.
Wir möchten einen Helden vorstellen: Michail Nekrasow, 20 Jahre alt, aus Sibirien, ein gewöhnlicher Infanterist. Er war erst kurz vorher eingezogen worden und erlebte seine Feuertaufe in einer der schrecklichsten Schlachten der Kriegsgeschichte. Sein Tagebuch basiert auf den Erinnerungen von Infanteristen, Panzergrenadieren, Artilleristen und all den anderen Soldaten, die der Wehrmacht in der Stadt an der Wolga das Genick gebrochen haben.
Gerade in Stalingrad und somit direkt in der Hölle angekommen. Hunderte deutscher Bomber verwandeln die Stadt in ein flammendes Inferno. Alles, was brennbar ist, brennt auch. Sogar die Wolga brennt – brennendes Öl aus bombardierten Lagern strömt in den Fluss.
Die Luftwaffe kreist Tag und Nacht über der Stadt. Es gibt kein Entrinnen vom Surren der Motoren. Alles, was Sie tun möchten, ist sich tiefer in den Boden zu graben, sich darin zu verbeißen, in ihm festkrallen und mit ihm eins, also unsichtbar, werden.
Um jedes Gebäude wird gekämpft, Tag und Nacht. Angst ist keine mehr da, nur noch Abgestumpftheit… und das Gefühl, dass der Tod bevorsteht. Dazu kommen Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Dort steht einer unserer zerstörten Panzer, im Inneren brennt etwas und löst eine Explosion aus. Der Oberfeldwebel geht mit einem Topf Brei zum feuerschwelenden Panzer und wärmt ihn darauf. Nichts erscheint mehr ungewöhnlich…
Das Kommando befahl uns, die Barrikady-Werke und die Fabrik Roter Oktober mit allen Mitteln zu verteidigen. Direkt hinter den riesigen Komplexen der Fabriken liegt die Wolga. Wenn wir sie verlieren, verlieren wir die Stadt. Es ist alles leichter gesagt als getan. Die Deutschen drängen uns trotz unseres Widerstandes immer weiter Richtung Fluss.
Das Barrikady-Werk ist verloren. Einigen Übriggeblieben gelang es, sich auf einem kleinen Teil des Fabrikgeländes zu verschanzen.
Der Feind hat alles um uns herum zerstört und unsere winzige „Insel“ auf drei Seiten umstellt. An der vierten Seite liegt die Wolga. Nur mit dem Boot können wir mit dem „Festland“ in Kontakt treten.
Wir mobilisieren die letzten Kraftreserven. Unsere „Insel“ ist permanent dem feindlichen Feuer ausgesetzt. Tagsüber feuern die Deutschen und nachts versuchen sie, aufs Gelände zu gelangen.
Wir kämpfen Seite an Seite. In den Kellern türmen sich die Leichen. Unsere tägliche Nahrungsmittelration besteht aus einem Trockenkeks. Mit Booten wird versucht, uns Vorräte zu liefern und Verwundete abzutransportieren. Doch die Verluste sind riesig. Nachts werfen unsere Piloten Fracht aus dem Flugzeug ab, doch sie verfehlen meist das Ziel.
Endlich gute Nachrichten. Es stellt sich heraus, dass unsere Leute seit einigen Tagen am Stadtrand die Operation Uranus durchführen, eine Offensive gegen die rumänischen Streitkräfte, die die deutschen Flanken schützen. Es gibt allen Grund, optimistisch zu sein. Die Rumänen sind weniger gut ausgerüstet und weniger effektiv als die Wehrmacht. Wir haben eine kurze Verschnaufpause. Die Deutschen sind verstummt, unsere Stellungen werden nicht mehr angegriffen.
Der Befehl zum Angriff wurde gegeben. Die Division soll die Fabrik befreien und ins Zentrum von Stalingrad vordringen. Ich nehme nicht teil - ich und andere Soldaten werden aus der Stadt verlegt, um die Operation Uranus zu unterstützen.
Was für ein Alptraum! Im Dorf Werchne-Kumsky durchbrachen Mansteins Panzer unsere Verteidigung. Sie waren auf dem Weg, ihre eigenen Leute in Stalingrad zu unterstützen.
Zehn von uns haben die Attacke überlebt. Wir rannten zum Rand des Feldes. Unsere Artillerie blieb stumm. „Warum schießt ihr nicht“, riefen wir. „Wir haben nur drei Granaten pro Waffe. Der Befehl lautet, nur aus nächster Nähe zu schießen.“
Wir begleiten die 170. Panzerbrigade. Wir haben uns mit ihnen zusammengeschlossen. Tagsüber liefern sie uns Deckung. Nachts, wenn die Panzer blind sind, sind wir ihre Augen und Ohren. Sie nahmen die Gehöfte Chlebny und Petrowski ein.
Um 5 Uhr morgens ertönte der Alarm. Der Feind war in der Tiefebene zwischen den Höfen entdeckt worden. Die Überreste der italienischen 8. Armee entkamen der Umzingelung. Als wir auf gleicher Höhe mit der Vorhut waren, kam der Befehl: „Zermalmt sie!“
Unsere massiven Panzerkeile schlugen von zwei Flanken aus zu und pulverisierten die Italiener buchstäblich. Wir sind ihnen gefolgt und haben sie erledigt. Ich habe noch nie so etwas Schreckliches gesehen. Die mit Kalk zur Tarnung geweißten Panzer waren nun blutrot. An den Raupenketten klebte hier eine Hand, dort ein Stück von einem Schädel. ...
Wir patrouillieren im zerstörten Stalingrad. Unsere Truppen haben gerade die 6. Armee in zwei Teile gespalten. Jetzt haben sie definitiv nicht mehr viel Zeit!
Die feindlichen Truppen im Süden der Stadt ergaben sich zusammen mit Friedrich Paulus höchstpersönlich. Die übrigen Deutschen halten sich immer noch in der Nähe des Traktorenwerks auf. Die Straßen sind mit Leichen gepflastert. Die Keller sind voller Verwundeter und Sterbender. Unsere Ärzte tun alles, was in ihrer Macht steht. Die Soldaten gehen auf die Suche nach SS-Leuten (es gibt nur noch wenige) und Verrätern, die die Deutschen Hiwis nennen, Hilfswillige.
Sie müssen sich auf den gefrorenen Boden legen und bekommen ein Loch in die Stirn verpasst.
Das scheinbar endlose Artilleriefeuer hörte ganz plötzlich auf. Was folgte, war eine durchdringende, fast unerträgliche Stille. Fast tat sie in den Ohren weh. Ein Soldat kam freudestrahlend angelaufen und rief: „Das war es. Der Krieg ist vorüber!“
Auch die nördlichen Truppen der Deutschen hatten sich ergeben. Einige von uns weinten, andere lachten. Viele schwiegen nur. Wir wussten, dass nichts vorbei war. Aber Stalingrad hatte uns etwas gezeigt, was zuvor unvorstellbar schien: die Deutschen sind zu schlagen!
Quelle: A. Drabkin. Ich habe in Stalingrad gekämpft. Geschichten der Überlebenden. Moskau, 2012; A. Issaew. Stalingrad. Es gibt kein Land für uns auf der anderen Seite der Wolga. Moskau, 2018, nicht auf Deutsch erschienen.
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