Warum lebten im Russischen Reich so viele Deutsche?

Geschichte
GEORGI MANAJEW
In der russischen Armee, in der Wissenschaft, sogar auf dem Kaiserthron: die Deutschen waren im Russischen Reich omnipräsent. Wie kam es dazu?

Ab dem 15. Jahrhundert, nachdem es Moskau gelungen war, sich vom tatarischen Joch zu befreien und die Rus zu einen, brauchten die Großfürsten erfahrene Militärs, Ingenieure und Wissenschaftler. Diese holten sie aus den deutschen Landen. 

Auf der Suche nach Ruhm und Reichtum  

Im vorpetrinischen Russland verwendeten die Russen das Wort „Deutsche“ („Nemzy“), um nicht nur Deutsche, sondern auch Franzosen und Briten sowie Schweden, Holländer und viele andere zu beschreiben. Ein eigenes Wort hatten die Russen nur für die Italiener: „Frjasy“ oder „Frjasiny“. Alle anderen Westeuropäer nannten sie „Nemzy“, abgeleitet vom russischen Wort „nemoj“, was „stumm“ bedeutet, denn die Westeuropäer konnten kein Russisch. 

Büchsenmacher, Festungsbauer, Pioniere und Artilleristen sowie Bergbauspezialisten: all diese Professionen waren gefragt, ebenso qualifizierte Ärzte und Apotheker. Unter Iwan IV., bekannt als Iwan der Schreckliche, entstand in Moskau das erste Deutschenviertel, Nemezkaja Sloboda

1551 schickte Iwan IV. seinen Gesandten Hans Schlitte in die deutschen Königreiche, Großherzogtümer, Herzogtümer und Fürstentümer, wo er 123 Personen für eine Tätigkeit in Russland rekrutierte. Darunter waren Ärzte und Apotheker, Theologen und Rechtsexperten, Architekten und Maurer, Goldschmiede und Spezialisten für Glockenguss.

Später, während des Livländischen Krieges, siedelte sich auch die deutsche Bevölkerung der von Moskau eroberten Städte in russischen Gebieten an. Nach dem Tod von Iwan dem Schrecklichen kamen unter Boris Godunow immer mehr deutsche Kaufleute nach Russland und ein weiteres Deutschenviertel entstand am Fluss Jausa in Moskau. Mitte des 17. Jahrhunderts gab es so viele Deutsche, dass Zar Alexei I. den Hauskauf von Deutschen in Russland beschränkte. Er befürchtete, dass die Russen bald selbst kein Dach mehr über dem Kopf hätten. 

Die Deutschen lebten in einer engen Gemeinschaft in ihrem Viertel. Sie hielten am lutherischen Glauben fest, hatten eine eigene Kirche und feierten ihre eigenen Feste. Sie trugen europäische Kleidung und pflegten einen westeuropäischen Lebensstil. 

Und obwohl in den Vierteln auch Briten, Holländer, Dänen, Schweizer, Franzosen und Schweden lebten, war Deutsch die Umgangssprache. Zu den prominenten Bewohnern des Deutschenviertels gehörten der Arzt Laurentius Blumentrost, der Juwelier Juri Forbos, der Apotheker Johann Guttemensch, der Pfarrer Johann Gottfried Gregory und der in Genf geborene General Franz Lefort. Letzterer spielte eine bedeutende Rolle in der russischen Geschichte und freundete sich mit dem jungen Zaren Peter an. 

Germanophilie am Zarenhof  

Franz Lefort wurde zusammen mit dem schottischen General Patrick Gordon einer der besten Freunde von Peter dem Großen, der oft das Deutschenviertel besuchte. Peter hatte die Leidenschaft für alles Europäische von seinem Vater geerbt. Nach seiner Großen Gesandtschaft, einer langen Reise durch Europa von 1697-1698, kamen noch mehr Europäer nach Russland: Finanzier Heinrich Claus von Fick, die Generäle Freiherr Georg Gustav von Rosen und Freiherr Carl Ewald von Rönne, der Dichter und Übersetzer Johann Werner Paus, der Militäroffizier und künftige Kanzler Heinrich Johann Friedrich Ostermann, Graf Burkhard Christoph von Münnich, der Ingenieur und Feldmarschall Georg Wilhelm de Gennin, General Johann Weisbach und General Adam Weide ... 

Auch diese Deutschen waren Freunde und Verbündete von Peter dem Großen. Sie taten viel für das Russische Reich. Oftmals aus einfachen Verhältnissen stammend, waren sie ein Beweis für Peters Überzeugung, dass nicht Herkunft und Nationalität, sondern Talent und Verdienst entscheidend waren, um sich in Russland einen Namen zu machen. 

Das von Peter errichtete Staatssystem und insbesondere die Rangliste - eine Liste der Positionen und Ränge in Regierung, beim Militär, in der Marine und bei Gericht, wurde nach deutschem Vorbild aufgestellt. Deshalb fühlten sich die Deutschen in russischen Diensten „wie zu Hause“. 

Katharina die Große trat in Peters Fußstapfen: Die deutschstämmige Kaiserin war die Gemahlin des ebenfalls deutschstämmigen Kaisers Peter III. und sicherte sich durch einen Putsch die alleinige Herrschaft. Unmittelbar nach der Thronbesteigung veröffentlichte Katharina von 1762 bis 1763 zwei Manifeste, in denen sie Ausländer einlud, sich in Russland niederzulassen. Die Regierung versprach ein „Umzugsgeld“ für die Ansiedlung in Russland. Freizügigkeit und Religionsfreiheit sowie die Befreiung von Zöllen und vor allem vom Militärdienst wurden ihnen ebenfalls zugesichert.  

Die deutschen Fürstentümer führten zu dieser Zeit ununterbrochen Krieg. Viele Militärangehörige flohen daher auf der Suche nach Frieden mit ihren Familien nach Russland. Katharinas Bestreben war, auf diese Weise mehr Kräfte für die Landwirtschaft zu rekrutieren, um genügend Nahrungsmittel für die Armee zu haben.  

Die erste Gruppe von Siedlern, etwa 25.000 Menschen, kamen in die Wolga-Region. Die Anreise war alles andere als komfortabel, die Deutschen waren daran nicht gewöhnt. Jeder zehnte kam nie am Ziel an. 

Dennoch entstanden bald mehr als 100 deutsche Dörfer in der Wolga-Region. Die nächste „Einwanderungswelle“ folgte nach dem Manifest von Alexander I. von 1804:  wieder lud ein russischer Kaiser die Deutschen ein, sich im Land als Freie niederzulassen. In Russland siedelten sich im 18. und 19. Jahrhundert Deutsche in der Wolga-Region, in Kasachstan, im Don-Gebiet, auf der Krim und in der Ukraine an. Und dies waren nur die größten Diasporas. 

Ab 1913 lebten ungefähr 2,5 Millionen ethnische Deutsche im Russischen Reich, ganz zu schweigen von den russifizierten Deutschen und ihren Nachkommen! Jede Diaspora der russischen Deutschen hat ihre eigene Geschichte, ihre Höhen und Tiefen erlebt. 18 Jahre lang existierte die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Deutschland in der Wolga-Region als Teil der UdSSR. 1918 versuchten die Krimdeutschen sogar, einen eigenen Staat zu gründen. 

Aber all dies sind Themen für einen anderen Artikel ... Sicher ist, dass die Geschichte des russischen und des deutschen Volkes untrennbar miteinander verbunden ist und man sich das eine ohne das andere einfach nicht vorstellen kann.

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