Die Eroberung Berlins symbolisierte den endgültigen Sieg über den Nationalsozialismus. Es war gewissermaßen der Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges. Ein Foto des Kriegsberichterstatters Jewgeni Chaldei zeigt Soldaten der Roten Armee, die die sowjetische Flagge auf dem Berliner Reichstagsgebäude hissen. Dieses Bild ging um die ganze Welt.
Doch für den Durchbruch im eigenen Land reichte auch diese spektakuläre Aufnahme nicht. Kurz nach dem Krieg wurde Chaldei entlassen, seine Arbeiten galten als mittelmäßig und er geriet viele Jahre in Vergessenheit.
Jewgeni Chaldei wurde am 23. März 1917 im heutigen Donezk in der Ukraine geboren. Er war erst ein Jahr alt, als eine Welle antijüdischer Pogrome, die von ukrainischen Nationalisten organisiert wurden, das Land erfasste. Einmal wurde auch geschossen. Chaldeis Mutter versuchte, ihren kleinen Sohn zu beschützen, doch eine Kugel traf ihn in die Brust. Er überlebte. So kam er bereits früh mit dem Leid in Berührung, zum ersten, jedoch nicht zum letzten Mal.
Jewgeni Chaldei auf dem Nürnberger Prozess
ArchivfotoChaldeis Interesse an der Fotografie entwickelte sich schon als er noch ein Kind war. Er ging oft in das örtliche Fotostudio und half beim Entwickeln. Seine erste Kamera bastelte er aus zwei Pappkartons und einem Objektiv aus der Brille seiner Großmutter.
In den 1930er Jahren tobte in der Region eine Hungersnot, und der 14-jährige Jewgeni musste in einem Stahlwerk arbeiten, wo er seine berufliche „Ausbildung“ erhielt. Etwas anderes hat er nicht gelernt. Das Fotografieren brachte er sich autodidaktisch bei.
In seinen Pausen fotografierte er das Stahlwerk. Bald bekam er ein Angebot, für die Zeitung „Der stalinistische Arbeiter“ zu arbeiten. Seine Fotos schickte er an verschiedene Moskauer Zeitungen, einige wurden veröffentlicht.
Im Sommer 1937, im Alter von 19 Jahren, zog er nach Moskau und begann bei der wichtigsten sowjetischen Nachrichtenagentur TASS zu arbeiten. Zunächst war er im ganzen Land als Fotoreporter unterwegs und lichtete Arbeiter von Kolchosen und Fabriken ab. Der Kriegsausbruch am 22. Juni 1941 änderte alles.
Chaldei war im TASS-Büro im Einsatz, als der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow, am 22. Juni um 12:00 Uhr seine historische Ansprache hielt: „Deutsche Truppen haben ohne Kriegserklärung unser Land angegriffen.“ Chaldei eilte auf die Straße und machte eine seiner bekanntesten Aufnahmen - von Moskowitern, die Molotows Rede hörten.
Die Moskowiter hören die Rede von Wjatscheslaw Molotow
Jewgeni Chaldei/Sputnik„Die Leute gingen nicht weiter. Sie standen schweigend da und dachten nach. Ich habe sie gefragt, was in ihren Köpfen vor sich ginge, doch ich bekam keine Antwort. Was dachte ich selbst? Ich dachte, dass es eines Tages ein letztes Bild vom Krieg geben würde“, sagte (rus) Chaldei.
Er hat damals wohl im Traum nicht daran gedacht, dass ausgerechnet er dieses letzte Foto machen würde. 1.418 Kriegstage standen damals bevor. Chaldei war der einzige sowjetische Fotograf, der den gesamten Krieg vom ersten bis zum letzten Tag festhielt.
Sowjetische Truppen in Berlin im Mai 1945
Jewgeni Chaldei/SputnikVerwüstete Städte, Soldaten in der Schlacht und, in seltenen Momenten der Ruhe, Zivilisten, die alles verloren hatten, zahllose Tote: Chaldei fotografierte alles. Das reale Leben, statt staatlicher Propaganda, sagte er. Er fotografierte vom eiskalten Murmansk bis nach Berlin. Er begleitete die sowjetischen Soldaten auf ihrem Weg durch halb Europa.
Beim Einmarsch in Berlin fehlte ihm der triumphale Moment. „Wir alle dachten, dieser Augenblick, auf den wir 1.418 Tage hingearbeitet hatten, müsste viel großartiger sein. Doch dort stand der Reichstag, schwarz von Ruß und Rauch, und es war ungewöhnlich still.“ Bevor Chaldei und die Soldaten den Reichstag erreichten, erschienen auf ihm plötzlich sowjetische Flaggen. Es war zu spät, um auf den Auslöser zu drücken. Daher ließ Chaldei diese Szene ein wenig später nachstellen.
Die Flagge mit Hammer und Sichel auf dem Foto war eine von insgesamt dreien, die Chaldei selbst mitgebracht hatte. Er verriet, dass sie aus roten Tischdecken genäht worden waren. Er bat drei zufällig anwesende Soldaten, die Flagge auf dem Reichstagsgebäude zu hissen, als wäre es das erste Mal. Er suchte den besten Winkel und machte zwei Filmrollen voll. So entstand das Foto, das zum Symbol für das Ende des Zweiten Weltkrieges wurde. Die Tatsache, dass das Foto inszeniert worden war, war später für niemanden von Belang.
Die erste Siegesparade auf dem Roten Platz
Jewgeni Chaldei/SputnikNiemand hatte damals Zweifel an Chaldeis Verdiensten. Er hatte die wichtigsten Momente dieser Zeit fotografiert: die Potsdamer Konferenz, die Unterzeichnung der deutschen Kapitulation, die Nürnberger Prozesse, Georgi Schukow auf einem grauen Pferd und die allererste Siegesparade auf dem Roten Platz. Nach dem Krieg wurde er als einer der besten Fotografen des Landes anerkannt und mit Auszeichnungen und Ehrungen überhäuft.
Aber ein Jahr später änderte sich die Einstellung gegenüber Juden in staatlichen Institutionen drastisch.
Für die TASS durfte er nicht mehr arbeiten. Ein Bewertungsgremium stellte ihm ein vernichtendes Zeugnis aus: „Ein mittelmäßiger Fotoreporter, der es kaum schafft, die Standards zu erfüllen.“ Ihm sei der Ruhm der Kriegsjahre zu Kopf gestiegen, aber er habe sich nicht weiterentwickelt. Seinen Beitritt zur Kommunistischen Partei habe er acht Jahre hinausgezögert. Er wurde 1948 entlassen, angeblich, weil es in der Moskauer Redaktion nicht mehr genug Aufträge gegeben habe.
Morgen in Moskau, 1956
Multimedia Art Museum MoskauDer Fotograf fiel bei den Behörden in Ungnade. Eine Weile hatte er sogar Grund, um sein Leben zu fürchten. Der sowjetische Schauspieler und Regisseur Solomon Michoels, den Chaldei häufig fotografiert hat, starb 1948. Es stellte sich später heraus, dass er auf Stalins Befehl getötet worden war. Chaldei vernichtete daraufhin alle Negative aus den Vorkriegsjahren. Als Stalin sich mit dem jugoslawischen kommunistischen Führer Josip Broz Tito stritt, zerstörte Chaldei alle Negative von Tito. Er kochte sie in einer Waschschüssel.
Der späte Herbst, 1961
Jewgeni Chaldei/SputnikElf Jahre lang schlug sich Chaldei mit Gelegenheitsjobs durch. Erst neun Jahre nach Stalins Tod bekam er im Jahr 1959 wieder eine richtige Anstellung. Er arbeitete weitere 17 Jahre bescheiden als Pressefotograf und ging 1976 in den Ruhestand.
Niemand erinnerte sich noch an seine Verdienste. Er wurde praktisch vergessen. Erst in seinen letzten Lebensjahren, anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges, erlangte er wieder Berühmtheit. Auf besondere Einladung des französischen Präsidenten war Chaldei 1995 Gast beim Internationalen Festival für Fotojournalismus in Perpignan, wo er eine der berühmtesten Auszeichnungen erhielt - den Titel „Ritter der Künste und Literatur“.
Jewgeni Chaldei
Igor Michalew/SputnikEnde Mai 1997, ein halbes Jahr vor seinem Tod, erschien in Europa ein Dokumentarfilm über Chaldei und in den USA ein Buch. Sein legendäres Foto vom Reichstag erzielte bei einer Auktion 13.500 US-Dollar.
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