„Feuertaufe“: Wie sich Russlands Altgläubige lebendig verbrannten

Boris Lisnew, 2013
Die Tradition der Selbstverbrennung unter den russischen Altgläubigen erstreckte sich über zwei Jahrhunderte und bleibt ein einzigartiges Phänomen in der Zeitgeschichte.

Es gab Russen, die den Tod vorzogen, anstatt ihren Glauben aufzugeben. Die harte Tradition der kollektiven Selbstmorde durch Feuer hat im 17. Jahrhundert unter den russischen Altgläubigen seinen Ursprung und setzte sich bis ins 19. Jahrhundert fort.

„Selbstverbrenner“

Die Selbstverbrennung der Altgläubigen in Russland begann während der Herrschaft des Großvaters von Peter dem Ersten, Zar Alexei Michailowitsch (1629 – 1676). Anlass waren religiöse Reformen durch den Zaren und den Patriarchen Nikon (1605 – 1681).

Im Jahr 1596 hatte die Kiewer Metropole die Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche abgebrochen und war eine Gemeinschaft mit dem Papst in Rom eingegangen. Die orthodoxen Kirchen des polnisch-litauischen Staatenbundes wurden griechisch-katholische Kirchen. Dies war ein schwerer Schlag für die russisch-orthodoxe Kirche, die Pfarrgemeinden, Territorien und Geld verlor. Mitte des 17. Jahrhunderts beschloss der russische Patriarch Nikon deshalb, die russisch-orthodoxe Kirche zu reformieren.

Patriarch Nikon

Patriarch Nikon lud katholische Gelehrte aus Kiew ein, die russischen liturgischen Bücher zu korrigieren, die im Vergleich zu ihren griechischen Originalen viele Fehler aufwiesen - sie wurden jahrhundertelang von russischen Mönchen einfach nur kopiert und mussten aktualisiert werden. 

Im Jahr 1653 wurden Briefe des Patriarchen an alle Kirchen Moskaus und anschließend an alle Eparchien (Provinzkirchenzweige) des Moskauer Zarenreichs geschickt. Diese Briefe führten neue Regeln für liturgische Dienste ein, und neue, korrigierte liturgische Bücher wurden im Land gedruckt und ausgegeben. Nikon nutzte die Reform, um seine Autorität als Oberhaupt der erneuerten russischen Kirche zu stärken.

Unter den wichtigsten liturgischen Änderungen wurde der Zwei-Finger-Gruß auf das Kreuz in einen Drei-Finger-Gruß geändert.

„Die Bojarin Morosowa“ von Wassili Surikow. Feodossia Morosowa (1632 - 1675) war eine Adlige und Unterstützerin der Altgläubigenbewegung. Hier ist sie mit zwei erhobenen gekreuzten Fingern zu sehen, das Kreuzzeichen der Altgläubigen. Morosowa starb im Gefängnis.

Diejenigen russisch-orthodoxen Christen, die die Reform als „teuflisch“ ablehnten, weil Nikons Veränderungen angeblich mit den heiligsten Symbolen der Religion in Konflikt gerieten, wurden die alten Ritualisten oder allgemein die Altgläubigen genannt.

Sie wurden auf der Großen Moskauer Synode von 1666 anathematisiert - dies bedeutete, dass diese Menschen nicht mehr an offiziellen russisch-orthodoxen Sakramenten teilnehmen konnten. Außerdem wurden sie doppelt besteuert, von Versammlungen und der Organisation von Kapellen ausgeschlossen. Diese Aktionen der offiziellen Kirche wurden von den Altgläubigen mit der härtesten Reaktion, die man sich vorstellen kann, erwidert, der kollektiven Selbstverbrennung.

Eine Gruppe der Altgläubigen im 19. Jahrhundert

Das Ende der Tage

Für die Altgläubigen war es kein Zufall, dass sie 1666 mit dem Kirchenbann belegt wurden. Obwohl sie ihre Jahre seit der Erschaffung der Welt zählten, waren sie sich der Tatsache bewusst, dass dieses Jahr im julianischen Kalender mit der Teufelsnummer gekennzeichnet war. Die Altgläubigen sahen dies definitiv als dunkles Omen an.

„Kyrills Buch“ war ein Kompendium religiöser Texte, das im 17. Jahrhundert populär wurde. Es enthielt Vorhersagen über das Ende der Tage, die „während des 8. Jahrtausends nach Adam“ eintreten würden (6999/7000 nach Adam war 1492 n. Chr.; 1666 n. Chr. war 7173/7174 nach Adam).

„Der große Komet von 1680“ von Lieve Verschuier

Im Jahr 1654 traf eine verheerende Pestepidemie Russland und tötete bis zu 800.000 Menschen. Mittendrin ereignete sich die Sonnenfinsternis im August 1654, die das „Ende der Welt“ ankündigte. Die Menschen waren überzeugt, dass die Welt untergehen würde. 1666 fand in der Region Nischni Nowgorod die erste Selbstverbrennung der Altgläubigen statt. Und es folgten noch Dutzende weitere.

>>> Die drei tödlichsten Epidemien der russischen Geschichte

Feuertaufe

Im März 1666, Region Wologda: 17 Menschen selbstverbrannt. 1672, Nischni Nowgorod - 2.000 Menschen. 1675, Region Wologda - weitere 2.000. Im Jahr 1678 gab es die Selbstverbrennung Paläostrow, eine der größten mit mehr als 2.700 Menschen, unter den Augen von Soldaten und Amtsleuten, die geschickt worden waren, um die Verbrennungen zu stoppen. Insgesamt gab es in der russischen Geschichte über 100 offiziell registrierte Selbstverbrennungen der Altgläubigen.

Die Altgläubigen betrachteten dies nicht als Selbstmord - dies war ein Märtyrertod als Protestakt gegen die antichristlichen zivilen Mächte und die korrupte Kirche, wie die Altgläubigen es ausdrückten. Sie haben sich nicht „von selbst“ verbrannt - die Operation wurde hauptsächlich als Reaktion auf die gewaltsame Bekehrung zum russisch-orthodoxen (jetzt nikonischen) Glauben durchgeführt, den die Altgläubigen als unheilig und unzüchtig betrachteten.

Die Selbstverbrennung wurde gründlich vorbereitet. Ein „Brandhaus“ wurde gebaut - eine riesige Holzkonstruktion, in die die Selbstverbrenner gingen. Es war normalerweise kein Einzimmerhaus, eher mehrere miteinander verbundene Holzhütten, oft in zwei oder mehr Geschossen. Typische „Brandhäuser“ waren für mehrere Dutzend Menschen gedacht.

Das Haus wurde dann mit Heu, Kerzenbaumwolle und anderen brennbaren Materialien gefüllt, darunter oft ein oder zwei Fässer Schießpulver. Die Fenster und die Tür wurden, von anderen Altgläubigen, die den Selbstverbrennern helfen sollten, von außen versiegelt. Sobald die Altgläubigen von einer militärischen Formation erfuhren, die auf dem Weg zu ihnen war, schlossen sie sich in das Gebäude ein und warteten darauf, dass die Soldaten kamen, dann verbrannten sie sich selbst.

Aber nicht alle waren so mutig, dem Feuer standzuhalten. Innerhalb des „brennenden Hauses“ wurden bestimmte vertrauenswürdige Personen (die auch mit den anderen verbrennen sollten) mit Gewehren und Äxten bewaffnet, um diejenigen zu ermorden, die versuchten zu fliehen - man sollte die „Feuertaufe“ mit Demut akzeptieren, predigten die Altgläubigen, weil es die Tür zum ewigen Leben im Reich Gottes war. 

Awwakum Petrow, der Führer der Altgläubigen im 17. Jahrhundert

Die meisten Selbstverbrennungen konnten nicht einmal von Soldaten gestoppt werden. Sie setzten sich im 18. Jahrhundert fort und hörten auch nach dem Verbot der Verfolgung der Altgläubigen durch Katharina die Große im Jahr 1762 nicht auf. Zwischen 1762 - 1825 wurden 23 Selbstverbrennungen registriert. Einer der letzten ereignete sich noch 1941 in der Tuwa-Region, wo die ansässigen Altgläubigen den Zweiten Weltkrieg für ein anderes Ende der Welt hielten.

Dieser Artikel wurde mit tiefem Respekt für den Moralkodex und die Geschichte der russischen alten Ritualisten verfasst und dient nur zu Informationszwecken. 

>>> Leben und Arbeiten wie im 17. Jahrhundert: So bewältigen russische Altgläubige ihren Alltag (VIDEO)

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung ausschließlich unter Angabe der Quelle und aktiven Hyperlinks auf das Ausgangsmaterial gestattet.

Weiterlesen

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!