Wissenschaftler hinter Gittern: Gefangene schufen die schlagkräftigsten sowjetischen Waffen

МАММ/МDF/russiainphoto.ru; NKVD Archive; Bundesarchiv 29
Hunderte Wissenschaftler saßen in sowjetischen Gefängnissen. Dort durften sie jedoch zum Wohl des Vaterlandes weiterarbeiten und erhielten für besonders herausragende Projekte sogar Auszeichnungen.

In den 1930er Jahren geschah etwas Undenkbares in der Sowjetunion: Die Aufgabe, die modernsten Waffen für die Rote Armee zu entwerfen, wurde ausgerechnet Sträflingen übertragen. In der Zeit der Massenrepressionen, landeten auch Hunderte von Wissenschaftlern, Konstrukteuren und Ingenieuren in Gefängnissen oder Arbeitslagern. Oft waren sie, wie so viele Menschen, denunziert worden, etwa von missgünstigen Kollegen.  

Die verurteilten Wissenschaftler, die als Volksfeinde deklariert und wegen Hochverrats, Spionage oder Sabotage gegen den Sowjetstaat verurteilt worden waren, verfügten dennoch über zu viel wertvolles Wissen und Erfahrung, um in der sibirischen Verbannung einfach nur Bäume zu fällen. 

So entstanden in der UdSSR die Sonderkonstruktionsbüros. Im Gefängnisjargon wurden sie als Scharaschkas bezeichnet. Darin büßten die verurteilten Wissenschaftler für ihre „Schuld“, hinter Stacheldraht und unter der Aufsicht von mit Maschinenpistolen bewaffneten Wachen des NKWD, indem sie für die Verteidigung des Landes arbeiteten.

Die Bedingungen in den Scharaschkas waren viel besser als in normalen Gefängnissen: Die Gefangenen bekamen saubere weiße Bettwäsche, hatten Duschen, es gab Bibliotheken, Zigaretten, Kuchen und Kekse zum Tee und natürlich die Einrichtungen, die sie für ihre Arbeit brauchten. Verurteilte Wissenschaftler wurden von Reinigungsarbeiten entbunden - für diese Zwecke wurde externes Personal eingestellt. Trotzdem waren diese Sonderbüros keine Kurorte - oft behandelten die NKWD-Wachen die Wissenschaftler besonders brutal, damit sie nie vergaßen, dass sie die „Feinde der Arbeiterklasse“ waren.

Sergei Koroljow, 1940

Dutzende der besten Spezialisten des Landes landeten in diesen Sonderbüros. Darunter befand sich unter anderen Sergei Koroljow, der Vater der sowjetischen Kosmonautik, der Juri Gagarin 1961 ins All bringen sollte. Auch Wladimir Petljakow, Designer der Pe-2, des am meisten in Serie produzierten sowjetischen Bombers und Nikolai Polikarpow, Entwickler der bedeutendsten sowjetischen Kampfflugzeuge I-15bis, I-16 und I-153 gehörten neben vielen anderen Konstrukteuren von Flugzeugen, Panzern, Artilleriesystemen und U-Booten dazu. Auch Chemiker, Architekten, Mathematiker, Bergbauingenieure waren betroffen. 

Su-152 von deutschen Truppen gefangen genommen

In den Sonderkonstruktionsbüros wurden die sowjetischen Pe-2- und Tu-2-Bomber entwickelt. Die 45-mm-Panzerabwehrkanone wurde aufgerüstet. Der T-37-Amphibienpanzer, die selbstfahrende Haubitze Su-152 und viele andere Waffen wurden hier entworfen. Die Liste der Erfolge beschränkte sich jedoch nicht auf Rüstungsgüter. In den Scharaschkas wurde auch an Projekten zur Gestaltung der Innenräume der Büros des Volkskommissars für innere Angelegenheiten (NKWD-Chef), eines Konferenzraums im Moskauer Kreml und von Regierungsdatschen auf der Insel Kamenny in Leningrad (heute St. Petersburg) gearbeitet.

G-5-Torpedoboot

Aufträge für verschiedene Projekte kamen sowohl vom Kreml als auch von den regionalen Behörden. So verlangte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Abchasiens Entwürfe für die Innenräume des Dampfers Sewastopol. Auch die Konstruktion von Segelbooten und G-4-Torpedobooten für den NKWD wurden in Auftrag gegeben. Alle Aufgaben wurden erfolgreich umgesetzt. 

die Pe-2

Es entstand eine paradoxe Situation, in der ein neues Jagdflugzeug für die sowjetische Luftwaffe gleichzeitig von mehreren Konstruktionsbüros entwickelt werden konnte, von denen eines aus Volksfeinden bestand, die hinter Gittern lebten und arbeiteten. Oft erzielten diese Sträflingsteams bessere Ergebnisse als ihre Kollegen draußen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland sowie in der UdSSR Scharaschkas für deutsche Wissenschaftler (größtenteils spezialisierten sie sich auf den Triebwerksbau und die Entwicklung ballistischer Raketen und Atomwaffen). Einige der Arbeiter dort wurden aus Kriegsgefangenen rekrutiert, während andere freiwillig für den ehemaligen Feind arbeiteten. In der UdSSR fanden sie gute Lebensbedingungen (nach sowjetischen Maßstäben) und bekamen gute Löhne. Ihre Freiheit war jedoch stark eingeschränkt. Die Wissenschaftler mussten ihren Urlaub in ihren Wohnsiedlungen verbringen und wurden vom NKWD überwacht. 

Wladimir Petljakow

Ein erfolgreiches Projekt, das im Gefängnis entwickelt wurde, führte häufig zu einer Begnadigung und war das Ticket in die Freiheit für einen Wissenschaftler und seine Kollegen. Die Verurteilung von aus dem Gefängnis entlassenen Spezialisten wurde aufgehoben (es gab Ausnahmen - zum Beispiel wurde Wladimir Petljakow, der 1940 freigelassen wurde und zwei Jahre später tragisch starb, erst 1953 vollständig rehabilitiert), ihre Rechte wurden wiederhergestellt und sie bekamen ihre Jobs zurück. Darüber hinaus erhielten die ehemaligen Sträflinge für ihre Leistungen manchmal sogar eine der höchsten sowjetischen Auszeichnungen, den Stalin-Preis. So wurden aus Volksfeinden Nationalhelden.  

Die Geschichte der Scharaschkas endete mit dem Tod Stalins. Nach 1953 wurden alle Einrichtungen dieser Art geschlossen. Viele von ihnen wurden in gewöhnliche wissenschaftliche Forschungsinstitute umgewandelt, die heute noch existieren.

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