Sprach Stalin mit einem georgischen Akzent?

Geschichte
ALEXANDRA GUSEWA
Im Bewusstsein der Bevölkerung sprach Josef Stalin mit starkem georgischen Akzent. So wurde er häufig in Filmen dargestellt und auch in Aufzeichnungen seiner Reden ist ein Akzent zu hören. Doch wie sprach er im wahren Leben?

Die Russen heute haben ein Bild von Josef Stalin, das geprägt wurde durch die vielen spätsowjetischen und zeitgenössischen Filme und Parodien auf den „großen Führer der Völker“. Darin wird er häufig übertrieben dargestellt mit seinen unverwechselbaren Charakteristika: in Militäruniform und mit Mütze, mit einer Pfeife und mit einem starken georgischen Akzent.

Aber inwieweit entspricht dieses Bild der Realität? Und wie stark war sein Akzent wirklich? Diejenigen, die den großen Führer live sprechen gehört hatten, waren überrascht, dass sie seine Stimme auf Tonaufzeichnungen nicht wiedererkannten.

Das ehemalige Archiv des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) ist im Besitz des Tagebuchs (rus) von Stalins Verwandter Maria Swanidse. Ihr Mann war der Bruder von Stalins erster Frau und die beiden Familien standen sich nahe. Maria kannte Stalins Stimme sehr gut und zeigte sich erstaunt, als sie ihn 1936 im Radio sprechen hörte: „Wie seltsam, ich konnte seine Stimme nicht erkennen - durch das Mikrofon klang die Stimme ganz anders und vor allem war der Akzent 100 Prozent stärker als im wirklichen Leben. Er spricht Russisch mit einem sehr reinen Akzent und er beherrscht die idiomatische russische Sprache gut ... "

Stalin, der russifizierte Georgier 

Stalin - sein richtiger Familienname war Dschugaschwili - wurde 1878 in der kleinen Stadt Gori unweit der Stadt Tiflis im Russischen Reich (dem heutigen Tbilisi, der Hauptstadt des modernen Georgien) geboren. Vor seinem achten Lebensjahr sprach er kein Russisch, aber seine Mutter, die ihn zum orthodoxen theologischen Seminar in Tiflis schicken wollte, bat die Kinder eines örtlichen Priesters, Josef die Sprache beizubringen. Nach nur zwei Jahren Sprachunterricht stieg er direkt im zweiten Studienjahr am Seminar ein. 

Zu dieser Zeit gab es in Tiflis viele Revolutionäre, die aus Moskau und St. Petersburg ins Exil geschickt wurden. Josef pflegte aktive Kontakte zu ihnen und entwickelte ein Interesse am Marxismus. Später engagierte er sich bei politischen Aktionen überall im Russischen Reich. Es versteht sich von selbst, dass er überwiegend Russisch sprach und dann das Pseudonym Stalin annahm, einen offensichtlich russischen Namen.

In ihren Memoiren „Zwanzig Briefe an einen Freund“ erzählt (rus) Stalins Tochter Swetlana Allilujewa, dass die Familie zu Hause Russisch sprach. Ihr zufolge „wurde die georgische Kultur zu Hause nicht gepflegt - der Vater war vollständig russifiziert“. Stalin wurde nicht gerne an seine Wurzeln erinnert. „Mein Vater wurde wirklich wütend, als Kameraden aus Georgien kamen und wie üblich - darauf können Georgier nicht verzichten! - großzügige Geschenke mitbrachten: Wein, Trauben, Obst.

Gab es Probleme mit Stalins Stimme oder mit den Aufnahmen? 

Gleichzeitig erinnert sich Swetlana, dass Stalin georgische Lieder mochte und sie gerne mit Freunden sang. „Er hatte ein ausgezeichnetes Ohr für Musik und eine hohe, klare Stimme. Im Gegensatz dazu sprach er aus irgendeinem Grund meist mit leiser und gedämpfter Stimme.“ 

Die Hausmeister von Stalins Datscha in Sotschi erinnerten sich ebenfalls an seine dumpfe Stimme. In seinem Büro war eine spezielle Akustik installiert worden, damit die Anwesenden den obersten Führer deutlich hören konnten, weil er stets so leise vor sich hinmurmelte.

Maria Swanidse meinte, dass die sehr schlechte Aufnahmequalität den Anschein erweckte, Stalin spräche in einer lauten Umgebung und es war nur schwer zu verstehen, was er sagte. 

Es scheint, dass die undeutliche Stimme des obersten Führers mit ihrem leichten Akzent - etwas, was nur schwer ganz abzulegen ist - nur durch die schlechten Mikrofone und Tonbänder noch undeutlicher wurde.  

Es gibt auch Unterschiede zwischen Reden und den Kontexten, in denen sie gehalten wurden. 

Dies ist eine Aufzeichnung von Stalins Radioansprache an die Nation im Jahr 1941, zu Beginn des Krieges. Er macht Pausen und kontrolliert seine Stimme. Es ist kein Akzent hörbar. 

Eine weitere Aufnahme aus dem Jahr 1941 ist eine spontane Rede Stalins vor Soldaten der Roten Armee. Er schaut nur gelegentlich auf sein Skript, spricht ansonsten jedoch frei. Hier macht sich der Akzent deutlicher bemerkbar, womöglich, weil er nervös ist. 

Und hier ist eine von Stalins letzten Reden, in der er sich 1952 an die Partei richtete. Er spricht sehr deutlich und macht Pausen. Wieder ist praktisch kein Akzent zu hören. Die Tonqualität der Stimme und der Akzent unterscheiden sich stark von der Rede von 1941. Experten halten es für sehr unwahrscheinlich, dass sich seine Stimme altersbedingt so stark verändert hat, weshalb die Transformation als historisches Rätsel gewertet wird.

Bleibt immer noch die Frage: Hatte Stalin nun einen Akzent oder nicht? 

In seinen Memoiren schrieb Marschall Schukow, dass Stalin meist leise sprach und die einzelnen Sätze klar voneinander abgrenzte. „Er sprach mit einem hörbaren georgischen Akzent, aber er kannte die russische Sprache sehr gut und verwendete gern lebhafte literarische Vergleiche, Beispiele und Metaphern.“

Wladimir Jerofejew, einer von Stalins Übersetzern, verriet (rus) in einem Interview ein interessantes Detail. „Molotow warnte, dass Stalin auf keinen Fall gebeten werden sollte, etwas zu wiederholen. Wenn Sie ihn nicht richtig verstanden haben, sehen Sie zu, wie sie aus der Situation herauskommen. Ansonsten wäre Stalin beleidigt, dass irgendjemand seine Aussprache für unverständlich halten könnte…“  

Es ist interessant, dass sich auch Stalins eigene Einstellung zu seinem Akzent veränderte. Sowjetische Filmemacher veröffentlichten eine große Anzahl pseudohistorischer Propagandafilme, in denen Stalin als Held dargestellt wurde. Mit Stalins Zustimmung spielte ihn der georgische Schauspieler Micheil Gelowani viele Jahre lang. Er hatte Stalin nie persönlich getroffen und sich durch das Hören der Radiosendungen des Obersten Sowjetführers auf seine Rolle vorbereitet und versucht, anhand von Aufnahmen, Gestik, Mimik und sogar Stalins Besonderheiten in Bezug auf Sprache und Akzent nachzuahmen.

1949 war der neueste Film, „Die Schlacht von Stalingrad“, in Vorbereitung und Stalin entschied, dass der georgische Schauspieler nicht für die Rolle des russischen Führers und Eroberers geeignet war. Er sagte gegenüber dem Minister für Kinoindustrie, Iwan Bolschakow: „Gelowani hat einen starken georgischen Akzent. Habe ich wirklich einen solchen Akzent? Überlegen Sie sich einen geeigneteren Schauspieler für die Rolle des Genossen Stalin. Am besten ist es ein Russe.“ Der Schauspieler Alexei Diki bekam die Rolle. 

Viele Menschen sind der Ansicht, dass Stalin nach dem Sieg gegen Hitler endgültig anfing, sich als Russe zu sehen und sich nicht mehr mit der Provinz Georgien identifizieren wollte.

Verschwörungstheorien 

Verschwörungstheoretiker sind davon überzeugt, dass die Unterschiede in der Wahrnehmung der Menschen leicht dadurch erklärt werden können, dass Stalin eine Vielzahl von Doppelgängern hatte. Einige hatten einen stärkeren Akzent als andere.

Es gibt eine andere populäre Theorie: die Radioaufnahmen sprach nicht Stalin, sondern jemand anders. Und die Stimme in Filmaufnahmen könnte synchronisiert worden sein. 

Die Wahrheit werden wir wohl nie erfahren. 

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