„Russland ist ein Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium”, zitiert der US-Amerikaner Frank Thoms zu Beginn seines Buches Winston Churchill. Mit der Vorstellung einer Matrjoschka, einer Steckpuppe, kam er in die Sowjetunion, als diese bereits in den letzten Zügen lag. Er suchte das Innerste des russischen Lebens und konnte sich aus erster Hand einen Eindruck vom Leben hinter dem Eisernen Vorhang machen. Und er lernte sehr viel über sich.
Sein Buch „Behind the Red Veil - An American inside Gorbachev’s Russia“ (erscheint in Englisch am 15. September 2020 bei SparkPress, Titel übersetzt „Hinter dem roten Schleier – Ein Amerikaner in Gorbatschows Russland) handelt von einem US-Lehrer, der sich entschlossen hat, sich selbst herauszufordern, indem er in eine sehr unbekannte Welt gereist ist. Er wollte die Wahrheit hinter der beidseitigen Propaganda herausfinden.
Warum Russland?
Thoms erste Erfahrungen mit Russland sind nur Skizzen. In den 1950er Jahren entdeckte er als Schüler „Radio Moskau“, das „mehr dadurch faszinierte, woher es gesendet wurde als durch seine Inhalte“. Dann erzielte das mysteriöse Land der Sowjets große Erfolge im Rennen um den Weltraum: Sputnik, Belka und Strelka, Gagarin und Tereschkowa - sie ließen die USA hinter sich und machten den jungen Mann neugierig!
Schließlich war Frank Thoms im College begeistert von den Vorlesungen über die russischen Zaren, die russische Landschaft und die Mentalität der Menschen. Er stellte sich vor, dass er eines Tages dieses Land besuchen würde, aber bevor es soweit war, unterrichtete er 20 Jahre lang russische Geschichte und Marxismus an amerikanischen Schulen und pflegte seine Leidenschaft für alles Russische und Sowjetische.
Frank Thoms kannte wie alle anderen Westler nur Propagandaberichte über das großartige sowjetische Militär oder den Weltraumruhm oder, von der anderen Seite, antisowjetische Berichte. Mitte der achtziger Jahre wurde es ihm zu bunt und er beschloss, sich selbst ein Bild zu machen. Er wollte echte Russen treffen und mit ihnen reden.
Wie ein Amerikaner in der Sowjetunion empfangen wurde
Als Gorbatschow im März 1985 an die Macht kam, erlaubte seine Politik der Perestroika eine leichte Öffnung des Eisernen Vorhangs. In diesem neuen Zeitalter der Offenheit und Transparenz in der UdSSR wurden gewöhnliche US-Amerikaner und die Russen neugierig aufeinander. Zuerst gab es Fernsehkonferenzen zwischen den Supermächten, und schließlich bot sich die Gelegenheit, das Land zu besuchen.
Der KGB blieb jedoch stets aktiv im Hintergrund. Im Herbst 1985, als Frank Thoms eine Reise in die UdSSR arrangierte, durfte er sich nicht frei bewegen. Das offizielle Reisebüro von Intourist kümmerte sich gewissenhaft um die Ausländer, die ins Land kamen… und achtete darauf, was sie tatsächlich sahen.
Um eine weitere Schicht der russischen Matrjoschka zu enthüllen, bewarb sich Thoms für das US-sowjetische Austauschlehrerprogramm und ging im Herbst 1986 nach Leningrad, diesmal nicht als Tourist. Er hatte endlich die einmalige Gelegenheit, echte Russen zu treffen.
Thoms war bestrebt, gute Beziehungen aufzubauen, ihnen zuzuhören und zu verstehen – „nicht zu urteilen, sondern zu lernen, Amerika nicht zu ihnen zu bringen, sondern ein Amerikaner unter ihnen zu sein“, schreibt er in seinem Buch.
Was hat Thoms über die Russen herausgefunden?
Als Thoms zum ersten Mal alleine durch Leningrad ging, fühlte er sich unwohl, als er bemerkte, dass zwei Männer ihn verfolgten. Er hatte das Gefühl, in Schwierigkeiten zu sein, und war gewarnt worden, auf der Straße kein Geld zu wechseln. Er hatte auch Angst, dass seine Brieftasche gestohlen werden könnte. Die Jungs schienen Schwarzhändler zu sein, denn sie fragten, ob er etwas authentisch „Sowjetisches“ kaufen wolle, das sich von dem unterscheidet, was die offiziellen Geschäfte für Ausländer anboten.
Die Abenteuerlust ließ ihn die nächste Matrjoschka öffnen und sich mit diesen Kerlen unterhalten. Er sagte, er suche zwei bestimmte Mädchen an der Universität. Und, oh Wunder und Überraschung: In dieser Stadt, in der fünf Millionen Menschen lebten, kannten die beiden diese beiden Mädchen. Sie luden Frank zum Abendessen ein. Obwohl er etwas nervös war, begleitete er sie. Diese Jungs halfen ihm nicht nur, die Mädchen zu finden, sondern sie hatten auch eine tolle Zeit zusammen und erzählten Thoms viel über ihr Leben.
Diese russischen Freunde wollten „unter dem allgegenwärtigen Mantel des kommunistischen Systems hervorkommen und in ihrem Leben selbst Entscheidungen treffen können. Und sie wollten gehört werden“, schreibt Thoms.
Als Lehrer sah er die dramatischen Unterschiede zwischen der Haltung der sowjetischen Lehrer gegenüber den Schülern und der der Lehrer in Amerika. Sowjetische Lehrer zeigten ein tiefes persönliches Interesse, sie verhielten sich sehr fürsorglich, setzten sich für die Schüler ein und halfen ihnen beim Übergang ins Erwachsenenleben.
Zugleich war Thoms beeindruckt von den Schülern, die sich Dutzende Möglichkeiten ausgedacht hatten, Spickzettel zu erstellen und sie an Klassenkameraden weiterzugeben. Sie hielten es für wichtiger, ihren Freunden zu helfen, einen Test zu bestehen, als selbst besonders gut abzuschneiden.
Schließlich war das, was Thoms über die Russen herausfand, sehr kontrovers, aber gleichzeitig sehr lebensnah: „Russen sind freundlich, kämpferisch, großzügig, unberechenbar, hoffnungsvoll, depressiv, liebevoll, ängstlich, ehrlich, trügerisch offen, geheimnisvoll.“
Thoms war besonders erstaunt, dass die Russen sich im öffentlichen Raum sehr nach dem Willen der Behörden verhielten, während sie jedoch im geschützten Rahmen ihrer Privatwohnungen dem „tristen, sowjetischen Alltag zu entkommen versuchten“.