Stalin kriminalisierte Armut
In den frühen Tagen nach der Revolution war die vorherrschende Ansicht, dass Obdachlose und Arme mit der Zeit als trauriger Überrest des alten Regimes verschwänden - sobald die Sowjets mit dem Aufbau eines Wohlfahrtsstaates fertig sein würden. Die Bolschewiki führten sogar entsprechende Statistiken. Bei der Volkszählung von 1926 wurden rund 133.000 Menschen gezählt, die auf der Straße bettelten. Es stellte sich heraus, dass die Bettler fast immer auch obdachlos waren.
„Diese Tatsache ist bemerkenswert, weil wir sehen können, dass dem Problem Aufmerksamkeit geschenkt wurde, es wurde untersucht. In brillanten Forschungsarbeiten ging es dann um Armut - die Motive, die Ursachen und den Inhalt dieser sozialen Kategorie“, sagt Elena Subkowa, leitende Forscherin am Institut für russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Die neue Regierung unternahm dann Schritte zur Bekämpfung der Armut. Sie begann mit geringen Rentenzahlungen für ausgewählte Personengruppen (so unbedeutend, dass sie nicht einmal das Existenzminimum sicherten) und Beschäftigungsinitiativen. Zugleich wurde bestimmten Gesellschaftsschichten, zum Beispiel den ehemals Privilegierten, jede Unterstützung verwehrt.
Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass der Kampf gegen die Armut nicht effektiv war. In den 1930er Jahren wurde die Forschung dazu plötzlich eingestellt. Armut wurde nun als individuelles Schicksal betrachtet, als eigene perverse Entscheidung, so wie Alkoholismus oder Prostitution. Dann erschien die Verfassung der UdSSR, die Grundlage für eine sozialistische Gesellschaft. Josef Stalin erklärte schließlich auf dem 8. All-Union-Kongress, dass die Ursachen für Armut und Arbeitslosigkeit beseitigt worden seien.
Strafen für Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit
Der Kampf gegen die Obdachlosigkeit bestand nun darin, die Betroffenen zu verfolgen. Die Armen und Vagabunden wurden aus den großen Städten vertrieben - eine Praxis, die seit zaristischen Tagen bestand und ein Verbot bestimmter Kategorien von Bürgern in St. Petersburg und Moskau enthielt. Aber es waren die Bolschewiki, die die Idee der „Vertreibung aus der blühenden Hauptstadt“ auf die nächste Stufe gebracht haben. Die „Räumung über den 101. Kilometer hinaus“ war eine Maßnahme, die häufig im Vorfeld nationaler Großveranstaltungen und Feiern praktiziert wurde.
Den Rest des Jahres würde die Polizei die Bettler von der Straße holen und herausfinden, ob sie Verwandte hatten oder ob Moskau ihr Wohnort war. Gab es keine Verwandtschaft, waren die Personen jedoch körperlich leistungsfähig, wurde versucht, die Bettler in Arbeit zu bringen. Diejenigen, die nicht arbeitsfähig waren, wurden in Einrichtungen für behinderte Menschen untergebracht. So lief es zumindest auf dem Papier.
Das Schema funktionierte in der Realität nicht. Laut Subkowa gab es Probleme bei der Vermittlung in Arbeit und außerdem viel zu wenig Behinderteneinrichtungen. Also wurden die Betroffenen in Institutionen für Geisteskranke geschickt. Die Diagnose war schnell gestellt. Aus so einer Anstalt hinauszukommen war fast unmöglich.
All die Personen, die befragt werden mussten, mussten irgendwo untergebracht werden. 1946 entstanden entsprechende Zellen mit katastrophalen hygienischen Bedingungen.
1951 wurde das Gesetz „Maßnahmen zur Bekämpfung von asozialen, parasitären Elementen“ erlassen, das vorsah, dass Obdachlose für einen Zeitraum von fünf Jahren in speziell ausgewiesene Gebiete der Sowjetunion geschickt werden sollten. Mit anderen Worten: Verbannung. Aber in den folgenden zehn Jahren wurde es noch schlimmer. Die Sowjets hatten begonnen, auch Arbeitslosigkeit, die sie als „Parasitismus“ bezeichneten, unter Strafe zu stellen. Nicht nur Obdachlose betraf dies, auch Schwarzarbeiter. Wer kein Dach über dem Kopf hatte, bekam dafür zwei Jahre Gefängnis aufgebrummt.
Chaos in den letzten Jahren der Sowjetunion
Durch diese radikalen Maßnahmen war die Obdachlosigkeit für die Öffentlichkeit praktisch unsichtbar geworden. Weder in der U-Bahn, noch auf den Straßen sah man sie. Ab den 1960er Jahren mussten sich Obdachlose in Kellern und auf Dachböden, in verlassenen Luftschutzbunkern und in den Knotenpunkten des Heizungsnetzes verstecken, ohne auf Hilfe hoffen zu dürfen.
Doch gegenüber der 1930er Jahre war die Sozialpolitik im Hinblick auf das Thema Obdachlosigkeit dennoch fortgeschritten. Das Tabuthema Armut wurde in den Medien euphemistisch „unterdurchschnittliches materielles Wohlergehen“ genannt. Die Regierung musste etwas dagegen tun. Zum Beispiel wurde bei der Neufassung der Verfassung von 1977 das Recht jedes Sowjetbürgers auf ein Zuhause eingeführt. Das führte zur Entwicklung des staatlichen und sozialen Wohnungsbaus. Es reichte jedoch nicht aus, um allen 250 Millionen Sowjetbürgern (290 Millionen zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der Sowjetunion) ein Dach über dem Kopf zu geben.
Gegen Ende der achtziger Jahre war die Situation noch schlimmer geworden, als in Zeiten des Mangels Lebensmittelkarten eingeführt wurden. Um eine solche zu erhalten, musste man unter einer Adresse registriert sein. „Wenn man illegal seinen Lebensunterhalt verdient hatte und sich davon ernähren konnte, war es nun durch das System der Lebensmittelkarten vorbei damit. Viele Obdachlose starben nun einfach“, erinnert sich Waleri Sokolow, selbst einmal obdachlos und Gründer der Organisation „Notschleschka“ für Obdachlose.
Selbst gegen Ende der Sowjetunion behaupteten die Offiziellen, wie zum Beispiel der damalige St. Petersburger Bürgermeister Anatoli Sobtschak, dass es keine Obdachlosigkeit gebe. Der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow sagte das ebenfalls sehr oft. Das Gesetz gegen Obdachlose verschwand mit dem Zusammenbruch der UdSSR aus dem Strafgesetzbuch.