Hoffentlich nie wieder: Russlands wilde Neunziger

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Chaos, Verbrechen, scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten und eine ganz neue Freiheit: Die 1990er Jahre waren für die Russen eine wahre Achterbahnfahrt.

1991 bis 1999 war eine aufregende Zeit. Die Russen haben viel erlebt: den Putschversuch von 1991, den Zusammenbruch der UdSSR und die neue Verfassung von 1993 mit ihren neuen Freiheiten und Demokratie, die ersten freien Wahlen, die Privatisierung von Staatsvermögen, zwei Kriege in Tschetschenien, der Fall (und Aufstieg und erneute Fall … ) des Rubels. Im kollektiven russischen Bewusstsein hat sich diese Zeit als „die wilden 90er“ eingebrannt. Wir werfen einen Blick zurück. 

1. Rasche Veränderungen  

Viele hofften, dass es nach dem Fall der Sowjetunion endlich Jeans - wir waren verrückt nach Jeans – geben würde und andere Waren aus dem Westen. Doch schnell hat uns die Realität eingeholt. 

Die Läden waren leer, das Geld hatte an Wert verloren. Die größten Einbußen hatten diejenigen, die bei staatlichen Institutionen gearbeitet hatten oder anderweitig vom Staat abhängig waren. Geschäftsleute witterten dagegen neue Chancen. 

Einerseits hatte das Ende des Regimes jenen die Sicherheit genommen, die ihm treu gedient hatten. Jeder von ihnen hatte sich zuvor darauf verlassen können, nach seinem Abschluss übernommen zu werden, mit einem ausreichenden Gehalt eine Familie ernähren zu können und vielleicht sogar in einem der Badeorte am Schwarzen Meer Urlaub zu machen. 

Die neue Demokratie brachte nun für alle neue Möglichkeiten, etwa die, ins Ausland zu reisen. Geld brachte sie jedoch nicht. Die Medien erlebten dagegen eine nie dagewesene Freiheit und wurden im Russland der 90er Jahre eine echte Größe. 

2. Aufstieg des Verbrechens  

Mit dem Sowjetsystem brachen auch Recht und Ordnung zusammen. Anarchie und Chaos regierten das Land vorübergehend.  

Russische Geschäftsleute erinnern sich noch gut an die Gefahren des Unternehmertums in den 90ern. Es gab Anschläge, Entführungen, Folter. Sie mussten sich zudem stets um die Sicherheit ihrer Familienangehörigen sorgen.

„In den 90ern stand alles Kopf. Das Land bestand aus Jägern und der Beute”, sagt (rus) der Bodybuilder Waleri Loktionow. „Geschäftsleute waren die Beute und Gangster die Jäger. Das Gesetz versagte. Die kriminellen Anführer hatten die Macht. Die Menschen wandten sich an sie um Hilfe und Schutz. Wer unter den Schutz einer mächtigen Bande stand, der musste sich keine Sorgen machen.“  

3. Zeit der Goldgräber …

Viele der heutigen Milliardäre haben ihr Vermögen in den 90ern gemacht. Einige profitierten von der Lokalisierung ausländischer Software oder der Errichtung der ersten Börse, während andere, wie der bekannte Oligarch Roman Abramowitsch mit dem Verkauf von Gummienten oder mit Kassendienstleistungen wie der später in Ungnade gefallene Michail Chodorkowski. 

Einige haben international bekannte russische Marken weit unter Wert gekauft und davon profitiert, wie Juri Scheffler, der in den 90ern die Rechte an der Wodka Marke Stolichnaya erwarb und damit nach verschiedenen Schätzungen jährlich 500 bis 680 Millionen US-Dollar verdient.

Der Markt der Möglichkeiten erschien in den 90ern unbegrenzt. Von Vinyl- und Autoteilen über Lederjacken bis hin zu Alkohol – Zwischenhändler und Verkäufer konnten in dieser Zeit ein Vermögen machen. Es gibt diese Geschichte eines Russen, der aus Frankreich umsonst oder zum Spottpreis eine Million kaputter Plastiktüten erworben hat. Jeder ehemalige Sowjetbürger war scharf auf eine Plastiktüte mit ausländischer Aufschrift. Für fünf Rubel pro Stück verkaufte der Händler sie in Moskau und machte so fünf Millionen Rubel. 

Andere nutzten die heftigen Schwankungen des Rubels zu ihrem Vorteil. Der 69-jährige Witali aus Rjasan erinnert sich (rus), dass er Ende der 90er Jahre auf seinem Sberbank-Konto einige Ersparnisse hatte. „Ich habe gehört, eine Inflation drohe. Auf Rat meiner Frau habe ich alles in US-Dollar umgetauscht. Und der Rubel fiel tatsächlich und der Dollar stieg!“ Er konnte sich von seinem Gewinn ein neues Auto kaufen. 

4. Alles oder nichts … 

„Die 90er Jahre waren eine sehr schwierige Zeit“, erzählt (rus) die 64-jährige Larisa aus Moskau. „Wir bekamen keinen Lohn mehr, die Inflation war enorm und unsere Ersparnisse wertlos. Meine Tante hatte Geld zurückgelegt für ein Auto. Als sie sah, was vor sich ging, hob sie alles Geld von ihrem Sberbank-Konto ab und kaufte sich einen Wintermantel.“  

Es gibt viele dieser Geschichten. Die Menschen haben ihre Sicherheiten verloren oder wurden Opfer von Betrügern. Auf Schneeballsysteme (wie MMM) und Währungsspekulanten fielen viele herein. 

Einige hatten nachher nichts mehr. „Die Leute mussten ihren wertvollsten Besitz verkaufen. Ich kenne sogar eine Frau, die ihre Haare veräußert hat, um Milch für ihre Kinder zu kaufen“, erinnert sich (rus) der Geschäftsmann Iwan aus Rostow. „Einige loben die Freiheit dieser Zeit. Ich denke jedoch, es war eine schlechte Freiheit, wild und blutig. Ich möchte diese Zeiten nicht zurück“, sagt er. 

Viele Russen sind seiner Meinung. Im Jahr 2016 gaben 56 Prozent (rus) an, die Zeiten unter Boris Jelzin, dem ersten Präsidenten der neu gegründeten Russischen Föderation, hätten dem Land mehr Schaden als Nutzen gebracht. 

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