Wie wurde die künstliche Befruchtung in der UdSSR entwickelt?

Public Domain; Khristoforov Valery / TASS
Die ersten Kinder in der Sowjetunion, die durch künstliche Befruchtung zur Welt kamen, wurden “Brillantenkinder” genannt. Man glaubte auch, dass sie schwach und krank geboren wurden. Wir erzählen Ihnen, wie das Verfahren in der Sowjetunion entstand und was mit dem ersten “Brillantenkind” geschah.

Der erste Fötus und das Parteiverbot

Die Geschichte der künstlichen Befruchtung in der UdSSR begann 1955 am Medizinischen Institut der Krim, 28 Jahre vor der Geburt von Louise Brown, dem weltweit ersten „Retortenbaby“.

Boris Chwatow

Die Abteilung für Histologie und Embryologie des Instituts wurde damals von dem Wissenschaftler Boris Chwatow geleitet. Dieser äußerte die Idee der künstlichen Befruchtung von Menschen bereits 1939. Seit 1940 lernten die Studenten und Mitarbeiter des Instituts diese Theorie. Einer seiner talentiertesten Studenten, der Doktorand Grigorij Petrow, probierte seit 1954 die künstliche Befruchtung von Tieren aus. Am 10. November 1955 führte Petrow zum ersten Mal die künstliche Befruchtung menschlicher Eizellen mit dem Einverständnis einer kinderlosen Familie durch, die sich dadurch ihren Kinderwunsch erfüllen wollte.

Die Schwangerschaft verlief normal, dauerte 13 Wochen, endete aber mit einer Fehlgeburt. Einer der Wissenschaftler des Instituts meldete den Vorfall dem Bezirkskomitee der Kommunistischen Partei auf der Krim und Chwatow wurde zu einem Gespräch vorgeladen.

„Chwatow kehrte vollkommen niedergeschlagen an das Institut zurück. Er versammelte sein Team und verkündete: ,Mir wird man das nicht verzeihen, aber ihr habt noch alles vor euch – ich will euer Leben nicht zerstören. Sollten wir die Arbeiten nicht besser einstellen?‘ Alle schwiegen. Wir erhielten damals säckeweise Post von kinderlosen Paaren mit der Bitten um Hilfe, auch aus dem Ausland“,erinnert sich einer von Chwatows damaligen Studenten, der Professor für Histologie an der Medizinischen Universität der Krim, Boris Trozenko.

Das Bezirkskomitee der Kommunistischen Partei verbot dem Institut, Experimente an „sowjetischen Frauen“ durchzuführen. Chwatow arbeitete weiterhin an der Universität, reiste für den Rest seines Lebens zu Konferenzen nach Moskau und St. Petersburg und propagierte die künstliche Befruchtung als Rettung für unfruchtbaren Ehen. Er starb 1975.

Grigorij Petrow

Petrow veröffentlichte neun wissenschaftliche Arbeiten über künstliche Befruchtung. Er verließ das Institut und schaute sich nach einem neuen Arbeitsplatz und einer neuen Wohnung um. Nach erfolglosen Versuchen kehrte er an das Institut zurück und begann, Anatomie zu lehren und ein Anatomie-Museum an der Medizinischen Universität einzurichten. Im Alter von 60 Jahren wurde er in den Ruhestand versetzt. Er starb 1997 in Armut.

1969 verkündete der britische Physiologe Robert Edwards, er habe die Technologie der künstlichen Befruchtung entwickelt. Im Jahr 2010 erhielt er für seine Entwicklung den Nobelpreis. Als Boris Trozenko davon erfuhr, ging er zum Friedhof Abdal und legte vier Rosen nieder – zwei gelbe Rosen für Chwatow und zwei rote Rosen für Petrow. „Vier Rosen statt des Nobelpreises“,kommentierte Trozenko.

Das erste Mädchen aus einer künstlichen Befruchtung

Nach dem Verbot weiterer Experimente beschäftigte sich Chwatow 1965 in einer Gruppe für frühe Embryogenese (Entwicklung und Bildung des menschlichen Embryos – Anm. d. Red.), der auch Ärzte angehörten, die sich mit dem Studium der Unfruchtbarkeit beschäftigten.

Die erste erfolgreiche künstliche Befruchtung in der UdSSR wurde 21 Jahre später von der Geburtshelferin und Gynäkologin Jelena Kalinina und dem Embryologen Valentin Lukin durchgeführt. Am 7. Februar 1986 wurde das erste sowjetische Kind geboren, das mit Hilfe einer künstlichen Befruchtung gezeugt wurde: Jelena Donzowa (später änderte sie ihren Vornamen in Aljona).

Im Labor für klinische Embryologie

„Zu jener Zeit arbeiteten nur vier Kliniken an der Entwicklung einer Methode der In-vitro-Fertilisation: zwei in Moskau und jeweils eine in Leningrad und in Charkow. Wir haben es zuerst geschafft, obwohl im selben Jahr auch in den anderen sowjetischen Kliniken die ersten Kinder durch künstliche Befruchtung gezeugt wurden“,erinnert sich Dr. med. Jelena Kalinina, die Direktorin der Klinik.  

Ihr zufolge erforderten die ersten Eingriffe teure Ausrüstungen und eine hohe Qualifikation der Ärzte. Aus diesem Grund wurden diese, durch künstliche Befruchtung geborenen Kinder auch „Brillantenkinder“ genannt. Man glaubte zudem, dass die Kinder schwach und krank zur Welt kommen könnten und dass die Methode gewöhnlichen Patienten niemals zur Verfügung stehen würde.

Heute kostet eine künstliche Befruchtung in Russland etwa 200.000 Rubel (2.340 Euro), im Rahmen der nationalen Projekte zur Verbesserung der Demographie ist das Verfahren sogar kostenlos – 2019 erfolgten in Russland 80.000 kostenlose Eingriffe.

Das Schicksal des ersten „Brillantenkindes“

Jelena Donzowa, das erste Kind in der UdSSR, das durch eine künstliche Befruchtung gezeugt wurde, verbrachte ihre Kindheit in der Ukraine, nahm nach der Schule an der Universität von Sewastopol ein Studium auf, lernte dort ihren Mann kennen und brachte 2007 auf natürlichem Weg einen Sohn zur Welt. Jelena Donzowas Schwangerschaft wurde von derselben Jelena Kalinina begleitet, die einst ihr selbst half, auf die Welt zu kommen.

Jelena Donzowa

Im Jahr 2009 zogen Jelena und ihr Mann nach Moskau, wo sie eine Werbeagentur leitet, die Außen- und Innenwerbung gestaltet. Jelena ließ sich von ihrem ersten Mann scheiden, heiratete zum zweiten Mal und denkt darüber nach, ihre Familie zu vergrößern.

„Ich träume davon, Zwillinge zu gebären. Mein zukünftiger Mann hatte Zwillinge in der Familie – sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits. Ich hoffe wirklich, dass wir auch Zwillinge bekommen werden“,sagte Donzowa in einem Interview mit RIA Novosti.

Jelena Donzowa

Manchmal nimmt Donzowa an TV-Sendungen über künstliche Befruchtung teil. Bei einer von ihnen sprach sich ein Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche gegen die In-vitro-Zeugung aus, da sie dem Willen Gottes widerspräche. „Ich entgegnete: Sie sagen, dass alles nach Gottes Willen geschehe, aber da die Menschheit sich das (die künstliche Befruchtung – Anm. d. Red.) ausgedacht hat, war dies doch auch Gottes Wille. Er konnte mir darauf nicht antworten“, sagt Donzowa.

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