Atemberaubende Geschwindigkeit: Die Geschichte der russischen Kutscher

Nikolai Samokisch
Kutscher bildeten eine besondere Klasse in der russischen Gesellschaft. Ein guter Kutscher musste mutig, schnell sowie absolut vertrauenswürdig sein und durfte keinen Hang zum Alkohol haben. Dieser begehrte und verantwortungsvolle Posten wurde gut entlohnt.

Als der Marquis Astolphe de Custine 1839 aus Frankreich nach Russland kam, war er schockiert von der außergewöhnlichen Geschwindigkeit, mit der russische Kutscher auf der Strecke Moskau-Petersburg, der ersten Hochgeschwindigkeitsstraße des Russischen Reiches, entlangpreschten. „Ich musste schnell das russische Wort für ‚langsamer‘' lernen. Aber andere Reisende haben die Kutscher noch angestachelt“, schrieb de Custine.

Die Kutscher, die diesen französischen Besucher so beeindruckten, waren in der Tat besondere Menschen, eine Klasse für sich in der Gesellschaft. Ihr Beruf war einer der ältesten im russischen Staat.

In staatlichen Diensten 

Das russische Wort für „Kutscher“ ist Jamschik - vom Wort Jam. Im mongolischen Reich von Dschingis Khan bezog es sich auf ein Gebäude an einer Wegstrecke, in dem Pferde gehalten wurden.

Das Jamssystem verband das Zentrum des mongolischen Reiches und seinen in Rus ansässigen Nachfolger, die Goldene Horde mit seinen Randgebieten. Damit die Abgesandten die großen Entfernungen so schnell wie möglich zurücklegen konnten, wurden Stationen entlang der Wegstrecken in einem festgelegten Abstand voneinander installiert. An den Stationen konnten sich die Boten ausruhen, ein frisches Pferd holen und ihre Reise fortsetzen. Auch nach der Herrschaft der Goldenen Horde behielt der neue russische Staat sein Wegestationssystem bei, um die Kommunikation zwischen Siedlungen zu erleichtern.

Die Haltestellen befanden sich in einem Abstand von 40 bis 60 Kilometern. Das entsprach ungefähr dem, was ein Pferd an einem Tag bewältigen konnte. Ihr Unterhalt wurde von der lokalen Bevölkerung sichergestellt. Die Bevölkerung der Siedlung musste die Straßen und Stationen in gutem Zustand halten, Kutschen, Pferde und Futter liefern und die am besten geeigneten Kandidaten für die Arbeit als Stationsleiter und die Kutscher selbst auswählen. Deren Aufgabe war der Transport von Regierungsbeamten und Fracht. Eine separate Institution, der Jamskoi Prikas, wurde eingerichtet, um den Prozess zu überwachen.

Es gab keinen Mangel an Bewerbern. Kutscher und ihre Familien waren von Steuerzahlungen befreit, erhielten Land, um ein Haus zu bauen, und verdienten gutes Geld. Die Arbeit war jedoch nicht einfach - ein Kutscher brauchte Kraft und Ausdauer und musste stets nüchtern und zuverlässig sein. Die Aufgabe bestand darin, Reisende, Sendungen und Fracht zu befördern, und jeder Fahrer musste mindestens drei gesunde Pferde halten.

Die Jamskaja Straße 

1693 erließ Peter der Große ein Edikt zum Aufbau eines Postsystems, das Moskau mit Pereslawl-Salesski, Rostow, Jaroslawl, Wologda und Waga verband. Er stellte strenge Anforderungen an die Fahrer, insbesondere in Bezug auf den Transport von Korrespondenz. Wenn das versiegelte Wachs auf den Briefen Anzeichen einer Verletzung aufwies, konnte der Fahrer damit rechnen, festgenommen und zur Vernehmung nach Moskau gebracht zu werden, was Folter bedeutete. Und für jede Stunde Verspätung erhielten die Fahrer einen Schlag mit der Peitsche.

Daher bildeten die Kutscher nach und nach eine eigene Klasse. Schon in jungen Jahren lernten sie, die Pferde optimal einzusetzen und mit anderen Herausforderungen der Tätigkeit umzugehen. Sie lebten auch getrennt in besonderen Gebieten. In Moskau und an anderen Orten gab und gibt es die Jamskaja-Straße. Dort und in weiteren Straßen lebten die Kutscher.  

Für gewöhnliche Reisende mit ausreichendem Geld war es möglich, staatliche Pferde zu mieten, die von einer Poststation bereitgestellt wurden. Dazu mussten sie eine Podoroschnaja, ein spezielles Dokument für die Verwendung eines staatlichen Pferdewagens, erwerben. Nachdem der Passagier es an der Poststation vorgelegt und das Progoni bezahlt hatte (Geld für ein Pferd, um eine bestimmte Strecke zurückzulegen), wurde er von einem Kutscher zur nächsten Station gefahren. Der Kutscher kehrte wieder zu seiner „Basisstation“ zurück.

Natürlich war es sehr teuer, entweder staatliche oder „unabhängige“ Kutscher ohne Podoroschnaja zu beauftragen. Im Allgemeinen konnte sich nur die Elite Kutschfahrten leisten. Und für diesen Hinzuverdienst waren die Fahrer auch bereit, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu fahren.

Signalgeber 

Die Bedeutung des russischen Ausdrucks „prokatit’ so swistom“ („mit einer Pfeife vorbeifahren“) kombiniert Geschwindigkeit und den berühmten Signalton der Kutscher. Sie signalisierten ihr Herannahen durch Pfeifen und Schreien, bis in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogenannte Waldai-Glocken, hergestellt im Dorf Waldai entlang der Strecke Moskau-St.-Petersburg, die an der Kutsche befestigt wurden, in Mode kamen. Diese waren so laut, dass Nikolaus I. 1834 verfügte, dass Waldai-Glocken nur von Kurier-Troikas und Feuerwehrleuten verwendet werden sollten.

Wie bereits erwähnt, waren Kutscher in Russland dafür bekannt, viel schneller zu fahren als ihre europäischen Kollegen - nicht umsonst hielten sich Ausländer in der Kutsche krampfhaft und starr vor Angst fest. Die Entfernung von Nowgorod nach Moskau - 562 Werst (ca. 578 km) - konnte ein Kutscher in weniger als drei Tagen zurücklegen.

Es war die rasante Entwicklung der Eisenbahnen in Russland (ab 1851 mit der Eröffnung der Strecke Moskau-Petersburg), die dem Beruf des Kutschers ein Ende setzte. Von nun an wurde alle Post und Fracht mit dem Zug geliefert, ebenso stiegen Reisende für lange Strecken auf den Zug um. Aus den Kutschern wurden nach und nach wieder einfache Bauern. Sie blieben nur noch als Charaktere der Folklore und in der klassischen Literatur im Gedächtnis der Russen.  

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