Wegweisende Erkenntnisse: Wie Lew Wygotski die moderne Psychologie beeinflusste

gemeinfrei; Jakow Berliner/Sputnik; Russia Beyond
Lew Wygotski ist seit vielen Generationen eine Ikone für Psychologen in aller Welt. Seine Konzepte und Theorien haben die Zeit überdauert und sind noch heute aktuell.

Wygotski wird von vielen als einer der einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts angesehen und das, obwohl er nie eine formelle psychologische Ausbildung erhielt. Er studierte Medizin und Rechtswissenschaften. Aufgewachsen ist er als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie in Gomel (heute Weißrussland). Er war ein brillanter Schüler und schaffte es trotz aller Diskriminierungen, zu denen auch ein eingeschränkter Zugang zu höherer Bildung für Juden gehörte, an die Moskauer Universität.  

Lew Wygotski

1926 war der damals 30-jährige Wygotski bereits am Moskauer Institut für Psychologie tätig. Er erklärte, die Psychologie stecke in einer Krise und neue Ansätze seien erforderlich. Die einzige Möglichkeit, diese Krise zu bewältigen sei die Systematisierung von Daten zur menschlichen Psyche und zum menschlichen Verhalten. Es sei notwendig, einen übergeordneten, einheitlichen Standard zur Analyse des menschlichen Geistes zu entwickeln, meinte Wygotski.  

Lew Wygotski mit seiner Frau und zwei Töchtern

Wygotski verband alle Faktoren, die mit dem Verständnis der menschlichen Psyche zusammenhängen, mit den Herausforderungen der Kindererziehung. „Durch andere werden wir zu uns selbst“, glaubte Wygotski, der als Mozart der Psychologie bezeichnet wurde. Ihm zufolge bestand jede Person, unabhängig von Alter oder Geschlecht, aus zahllosen Möglichkeiten.

3 neue Ansätze Wygotskis 

Aus praxisorientierter Sicht hat Wygotski mehrere Durchbrüche erzielt:

  1. Er stellte eine revolutionäre These auf: Angeborene Fähigkeiten beeinflussen die Entwicklung und Selbstverwirklichung eines Kindes, bestimmen sie aber nicht.

Wygotski glaubte, dass Kinder durch körperliche Interaktion lernen. Seine soziokulturelle Theorie behauptete, dass Lernen in erster Linie ein sozialer Prozess sei, in dem Gesellschaft und Eltern eine Schlüsselrolle spielen. Wygotski war der erste, der im postrevolutionären Russland formulierte, dass jedes Kind eine Chance habe, zu wachsen. Er war der festen Überzeugung, dass auch Kinder mit Lernschwierigkeiten, die die Kommunikation besonders erschweren, Fortschritte erzielen könnten.  

„In der Tat hat uns die Psychologie das schon lange beigebracht, die Lehrer wissen das schon lange, aber erst jetzt wurde das wichtigste Gesetz mit wissenschaftlicher Präzision formuliert: Ein Kind will alles sehen, auch wenn es kurzsichtig ist, es will alles hören, auch wenn es eine Hörbehinderung hat, und es will sprechen, auch wenn es eine Sprachstörung hat. 

  1. Wygotski schuf mit der „Zone der nächsten Entwicklung“ eine Theorie, die Psychologen aus aller Welt einen neuen Ansatz zur Bewertung und Messung grundlegender Entwicklungsprozesse bot.

Laut Wygotski kann ein Kind in jedem Alter nur eine bestimmte Menge an Wissen erwerben. Mit anderen Worten, man sollte nicht erwarten, dass ein durchschnittlicher Vierjähriger einen Erwachsenen im Schach schlägt. Die Eltern sollten sich daher nur auf die sogenannte Zone der nächsten Entwicklung des Kindes konzentrieren. Sie kann als Herausforderung gesehen werden, die ein Kind noch nicht alleine meistern kann, doch es befindet sich bereits auf dem Weg dahin. 

Die Dynamik der schulischen Entwicklung kann ebenfalls mit dieser Theorie beurteilt werden. Manches können Kinder nur mit Hilfe durch die Eltern oder von Lehrern lernen. 

„Entwicklung ist ein kontinuierlicher, selbstkonditionierter Prozess, keine steuerbare Marionette. Ein Kind wird nur durch Interaktion und aktive Teilnahme am Leben anderer ein eigenständiges Individuum.“

  1. Wygotski war überzeugt, dass Kinder spielen müssen und etablierte damit einen wichtigen Grundsatz in der Vorschulerziehung. 

Wygotski glaubte, dass das Spielen die Entwicklung von Denken, Gedächtnis, Vorstellungskraft und Handlungsfähigkeit fördern könne. Schon vor hundert Jahren hat der sowjetische Psychologe vorausgesehen, was heute bewiesen ist: Kinder, die im Vorschulalter keine Möglichkeit zum Spiel haben, können Lernschwierigkeiten entwickeln. 

Spielen hilft einem Kind, sich zu entwickeln. „Es ist eine Quelle der Entwicklung“, sagte Wygotski. Kinder können beim Spielen zukunftsorientierte Denk- und Problemlösungsstrategien entwickeln. Spielen ist eine Schlüsselaktivität, die dazu beiträgt, eine Zone der nächsten Entwicklung zu schaffen, zur Teilnahme zu motivieren und Handlungspläne in einer imaginären Situation aufzustellen. 

Wegbereiter der modernen Psychologie 

Wygotski arbeitete Hand in Hand mit Alexander Luria, dem Begründer der russischen Neuropsychologie. Gemeinsam forschten sie auf den Gebieten Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Psychopathologie.

Lew Wygotski

Wygotski reiste nur einmal ins Ausland, aber seine Konzepte eroberten dennoch die ganze Welt. Seine Werke wurden nachgedruckt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Wygotskis kulturhistorische Arbeiten über die Beziehung zwischen Sprache und Denken und seine Entwicklungstheorie von Handlungen und Beziehungen wurden zur Grundlage der modernen Psychologie.

Für seine Studenten und enge Mitarbeiter war Wygotski ein Genie. Der wegweisende sowjetische Psychologe hatte ein bedeutungsvolles, aber kurzes Leben. Wygotski starb 1934 im Alter von nur 37 Jahren an Tuberkulose. Ein großer Teil seiner Arbeiten wurde posthum von seinen Schülern veröffentlicht.

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