Trotz Einparteiensystem: Gab es Wahlen in der UdSSR?

Roman Azriel/TASS
Wahltage in der UdSSR glichen Feiertagen. Die Menschen tanzten vor den Wahllokalen und nutzten die Möglichkeit, seltene Güter zu erwerben, die es nur zu den Wahlen gab.

Es ist etwas überraschend, dass es im sowjetischen Einparteiensystem überhaupt Wahlen gab. Doch die neue sowjetische Verfassung, die 1936 verabschiedet wurde, sah als gesetzgebende Körperschaft den Obersten Sowjet der UdSSR vor. Dieser sollte alle vier Jahre von den Bürgern des Landes gewählt werden. 

Der Wahltag wurde wie ein Feiertag begangen, mit Massenveranstaltungen. 

Musik, Mangelware und Feierlichkeiten 

Ähnlich wie in anderen Staaten, in denen die politische Macht monopolisiert wurde, war die Wahlbeteiligung bei den Sowjetwahlen immer außergewöhnlich: nahezu 100 Prozent. Die damaligen Wähler berichten, dass es keinen Druck gegeben habe, seine Stimme abzugeben. Sie stimmten freiwillig ab, weil sie es für ihre Pflicht hielten, ihr Vertrauen in das System zu demonstrieren, aber auch, weil sie von den Behörden auf subtile Weise zur Stimmabgabe motiviert wurden. 

Vor den Wahlen startete die Obrigkeit stets Kampagnen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Zeitungen druckten Ankündigungen des bevorstehenden Ereignisses, damit jedem das Datum bekannt war. Sowjetische Medien überfluteten die Menschen auch mit eher langweiligen Berichten über die Vorbereitung der Wahlen.

Agitationsplakate sollten einen zusätzlichen Anreiz zum Wählen bieten. 

Die Wähler erhielten auch persönliche Nachrichten, die an das Gewissen der Genossen appellierten. 

Gemessen an der massiven Wahlbeteiligung hat die Strategie funktioniert. Die Leute kamen, um gemeinsam mit Familienmitgliedern und Freunden abzustimmen, und inszenierten oft Gruppenfotos, um eine Erinnerung an diesen bemerkenswerten Tag zu haben. Die Umgebung der Wahllokale war üblicherweise festlich geschmückt. 

Musik spielte und die Leute tanzten sogar manchmal vor den Wahllokalen.

„Wir haben immer gleich am Morgen abgestimmt, weil man an den Wahllokalen Mangelware wie Orangen, Kuchen, Gebäck und auch einige seltene Bücher kaufen konnte, die sonst nicht zu bekommen waren und die immer schnell ausverkauft waren“, erinnert sich die heute 83-jährige Wählerin Alexandra Gorjuschina. 

„Heilige Pflicht“ 

Obwohl das festliche Umfeld und die seltenen Güter dazu beigetragen haben, die Menschen zu den Wahllokalen zu locken, hielt die überwiegende Mehrheit der Sowjetbürger es für ihre Pflicht zu wählen, da jede Stimme ein Vertrauensvotum für das kommunistische System war.

„Die Leute kamen zu den Wahllokalen, unabhängig von der Möglichkeit, ein Mangelprodukt zu kaufen. Einige Leute nahmen zusätzlich eine Wurst mit, andere nicht. Aber alle hielten es für wichtig, zu wählen. Es war eine heilige Pflicht“, sagt (rus) Nikolai Bobrow, der seit 1971 seine Stimme bei den Wahlen in der UdSSR abgegeben hat. 

Selbst wenn es jemandem missfiel, für bereits vorab feststehende Kandidaten abzustimmen, die keine Konkurrenz hatten, sorgte der Gruppenzwang dafür, an den Wahlen teilzunehmen. 

„Mein Vater zum Beispiel mochte die Abstimmungen nicht sehr, aber er ging trotzdem zur Wahl“, erinnert sich Bobrow. 

Kandidaten ohne Gegenspieler 

In der UdSSR gab es keine Opposition. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) war die einzige legitime politische Kraft im Land. Von allen Bürgern wurde erwartet, dass sie sie unterstützen, und jede Opposition gegen die Parteilinie wurde als Zeichen des Misstrauens und Widerstandes gewertet. 

Die meisten Kandidaten traten für die KPdSU an, es gab jedoch auch formal unabhängige Kandidaten. Diese liefen jedoch ebenfalls im Bündnis mit den KPdSU-Kandidaten auf und waren nicht gegen sie.

In jedem Wahlbezirk gab es nur einen Kandidaten, der für den gemeinsamen Block aus Kommunisten und Nicht-Parteimitgliedern antrat. 

Man durfte zwar gegen den einzigen verfügbaren Kandidaten stimmen, aber dazu musste man eine Wahlkabine benutzen. Die Pro-Stimme wurde dagegen durch die Abgabe des nicht ausgefüllten Wahlzettels markiert, so dass es nicht notwendig war, in einer Wahlkabine abzustimmen. 

Die meisten Leute gaben deshalb einfach einen leeren Stimmzettel ab, und diejenigen, die die Wahlkabinen nutzten, wurden mit Argwohn als potenzielle Dissidenten betrachtet. 

Erst nachdem Michail Gorbatschow Demokratisierungsmaßnahmen im politischen System der Sowjetunion eingeführt hatte, indem er 1989 ein neues gesetzgebendes Organ einrichtete, das als Kongress der Volksabgeordneten bekannt war, bekam  das sowjetische Volk einen Vorgeschmack auf das, was Wahlkampf ausmacht.

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