„Ich habe Pasternak nicht gelesen, aber ich verurteile ihn“: Was steckt hinter dieser Phrase?

Kira Lisitskaya (Photo: AP; Jerry Cooke/Getty Images)
Wie kann es sein, dass Menschen einen Roman kritisieren, den sie gar nicht gelesen haben? Wir erklären das Phänomen, das zu einer populären Redewendung in der Sowjetunion wurde.

Boris Pasternak ist einer der prominentesten russischen Schriftsteller aller Zeiten. Trotz dieser Tatsache und seiner internationalen Bekanntheit und dem Umstand, dass er in Russland inzwischen geradezu verehrt wird, war er zu Sowjetzeiten eine Persona non grata.

Wie aus einem prominenten Dichter ein Ausgestoßener wurde

Boris Pasternak war vor allem als Dichter bekannt. Seine symbolistischen Verse gelten als Teil des „Silbernen Zeitalters“ der russischen Literatur. Er gehörte zu den produktivsten und talentiertesten Dichtern Russlands.

Boris Pasternak

Pasternak verließ im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern und den meisten seiner Familienmitglieder das Land nach der bolschewistischen Revolution nicht. Er schrieb weiter Gedichte - und wurde von den sowjetischen Behörden anerkannt. In den 1920er und 30er Jahren galt er als einer der besten sowjetischen Dichter und war ein angesehenes Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbandes. Sogar Josef Stalin schätzte Pasternak und dessen Talent - und das, obwohl Pasternak sich an Stalin gewandt hatte und um die Freilassung einiger Inhaftierter gebeten hatte. 

Doch als Stalin immer mächtiger wurde, ab den späten 1930er Jahren, verlangte die sowjetische Propaganda nach patriotischen, den Zeitgeist entsprechenden Gedichten, nicht nach philosophischen und „vom wirklichen Leben losgelösten“ Texten, wie Pasternak sie schrieb. So wurden seine Gedichte von diesem Moment an nicht mehr veröffentlicht und er wandte sich Übersetzungen und Prosa zu.

Der Fall „Doktor Schiwago“

Nach etwa zehn Jahren Arbeit vollendete Pasternak 1955 einen der besten Romane, die je in russischer Sprache geschrieben wurden: „Doktor Schiwago". Formal ist es ein Buch über den Bürgerkrieg, der in Russland nach der Revolution stattfand, aber tief im Inneren ist es ein Roman über Menschen, über Liebe und Tod, den Sinn des Lebens und das Universum selbst. Und absolut unpassend zu jener Zeit in der Sowjetunion, denn der Roman stellt die Bolschewiken in kein gutes Licht und zeigt stattdessen, wie barbarisch sie agierten und wie sie viele Leben ruinierten.

Es überrascht nicht, dass „Doktor Schiwago“ verboten wurde und eine Welle der Ablehnung durch die Medien und die Behörden, einschließlich Nikita Chruschtschow, auslöste. Und was dann geschah, hat Pasternak als sowjetischen Schriftsteller buchstäblich „getötet“.

Pasternak gelang es, das Buchmanuskript in den Westen zu schmuggeln. Im Jahr 1957 wurde „Doktor Schiwago“ in Italien veröffentlicht. Später enthüllte die CIA, dass sie dabei ihre Finger im Spiel hatte. Es war eine weitere Waffe, die im Kampf gegen den Kommunismus eingesetzt wurde.  

(links) Das Buchcover der ersten italienischen Ausgabe von  „Doktor Schiwago“, 1957;  Das Gemälde „Pasternak“ von Pjotr Below

1958 wurde Pasternak als Träger des Literaturnobelpreises bekannt gegeben. Die sowjetischen Behörden waren empört über diese Entscheidung und betrachteten es als Affront gegen die Sowjetunion. 

In der UdSSR begann eine wahre Hetzjagd gegen Pasternak. Er wurde zum Verräter erklärt und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Dies bedeutete in jenen Zeiten, dass seine Werke nicht mehr veröffentlicht werden konnten. Sowjetische Autoren arrangierten eine Rufmord-Kampagne. Alle offiziellen Medien schrieben, der Roman sei eine Verleumdung der Revolution und der Sowjetmacht. Sie zitierten sogar einige Briefe, die Proletarier angeblich an sie schickten, um den Roman zu verurteilen.

Ein Treffen der Moskauer Schriftsteller

Aber die Sache ist die, dass niemand von ihnen tatsächlich jemals den Roman gelesen hat, denn er war bis dato in der Sowjetunion überhaupt nie veröffentlicht worden. Also begannen viele dieser Briefe mit den Worten „Ich habe Pasternak nicht gelesen, aber ich verurteile ihn" oder „Ich habe diesen Roman nicht gelesen, aber er ist schlecht“. 

Parteikomitees, Fabriken und Institute hielten Versammlungen ab, in denen sie Pasternak kollektiv verurteilten. Einige schlugen sogar vor, Pasternak die sowjetische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Schließlich musste er öffentlich den Verzicht auf den Nobelpreis bekanntgeben. 

Das Mobbing belastete Pasternak auch gesundheitlich stark. Kurz darauf starb er 1960 an Krebs. Sein Roman wurde in der UdSSR erst 1988 offiziell veröffentlicht.

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