Die erschütternde wahre Geschichte der „Kannibaleninsel" der UdSSR

Kira Lisitskaja (Photo: Michail Krukowski/Kunstkamera/russiainphoto.ru; Freepik.com)
„Überall auf der Insel konnte man sehen, wie Menschenfleisch gerissen, geschnitten und an Bäume gehängt wurde. Die Lichtungen waren mit Leichen übersät."

Ohne jede Ausnahme

Alles begann mit der Entscheidung der Sowjetunion, das nach der Revolution von 1917 abgeschaffte Passsystem wieder einzuführen. Die bolschewistische Führung hatte das System zunächst abgeschafft, weil sie die Bewegungsfreiheit der Menschen innerhalb des Landes nicht kontrollieren wollte. Ein Sowjetmensch sollte leben und arbeiten können, wo immer er wollte.

Die Folge war, dass Massen von Bauern auf der Suche nach einem besseren Leben in die Städte strömten. Dies führte zu einer akuten Knappheit an verfügbarem Wohnraum für die Hauptstütze des herrschenden Regimes - das Proletariat.

Die Arbeiter wurden daher ab Ende 1932 zur größten Bevölkerungsgruppe, für die wieder Pässe ausgestellt wurden. Die Bauern hingegen hatten (mit wenigen Ausnahmen) bis 1974 kein Recht auf einen Reisepass.

Zusammen mit der Einführung des Passwesens wurden in den Großstädten „Säuberungsaktionen“ durchgeführt, um diejenigen zu vertreiben, die keine Papiere besaßen, die sie dazu berechtigten, dort zu leben. Diese „Säuberungen“ und Verhaftungen richteten sich nicht nur gegen Bauern, sondern gegen alle Arten von „antisowjetischen“ und „deklassierten Elementen“. Dazu gehörten Wucherer, Vagabunden, Bettler, Landstreicher, Prostituierte, ehemalige Priester. Sie wurden in spezielle Siedlungen in Sibirien geschickt, um dort für das Gemeinwohl zu arbeiten.

Polizei und OGPU-Sicherheitsdienst waren so eifrig bei ihren Pass-Razzien, dass sie oft auch Personen auf der Straße festhielten, die zwar einen Pass besaßen, diesen aber gerade nicht bei sich trugen.

Wer gegen das Passregime verstoßen hatte, bekam meist keine Chance zur Anhörung, sondern wurde fast an Ort und Stelle verurteilt und in eines der Arbeitslager im Osten des Landes geschickt.

Insel des Todes

Die traurige Geschichte, die den ersten dieser Deportierten widerfuhr, wurde als die Nazino-Tragödie bekannt.

Im Mai 1933 wurden über 6.000 Menschen von Lastkähnen aus auf einer kleinen einsamen Insel im Fluss Ob in der Nähe des Dorfes Nazino in Sibirien ausgesetzt. Sie sollten dort vorübergehend bleiben, bis Probleme mit der Unterbringung in den Arbeitslagern gelöst waren.

Die Deportierten trugen die Kleidung, in der die Polizei sie auf den Straßen von Moskau und Leningrad (St. Petersburg) festgenommen hatte. Sie hatten nichts bei sich, um eine provisorische Unterkunft zu bauen.

Den Gefangenen blieb nichts anderes übrig, als am Lagerfeuer zu sitzen oder auf der Insel nach Rinde und Moos zu suchen, denn niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihnen etwas zu essen zu geben. Erst am vierten Tag wurde ihnen etwas Roggenmehl gebracht, nur einige hundert Gramm pro Person. Nachdem sie diese mageren Rationen erhalten hatten, eilten die Menschen zum Fluss, wo sie ihre Hüte, Fußbinden, Jacken und Hosen als Behälter benutzten, um eine Art Brei zu kochen.

Bald waren Hunderte der Deportierten tot. Hungrig und frierend schliefen sie entweder an den Lagerfeuern ein und verbrannten bei lebendigem Leib, oder sie starben an Erschöpfung. Eine Flucht von der Insel war unmöglich, da Besatzungen mit Maschinengewehren jeden, der zu fliehen versuchte, sofort erschossen.

Kannibaleninsel

Die ersten Fälle von Kannibalismus auf der Nazinsky-Insel traten am zehnten Tag auf. Die ersten, die die menschliche Grenze überschritten, waren die hartgesottenen Kriminellen unter ihnen. Daran gewöhnt, unter brutalen Bedingungen zu überleben, bildeten sie Banden, die die anderen terrorisierten.

Die Bewohner eines nahe gelegenen Dorfes wurden unfreiwillige Zeugen des Albtraums, der sich auf der Insel abspielte. Ein Bauernmädchen, das damals gerade 13 Jahre alt war, erinnerte sich, wie eine schöne junge Frau von einem der Wächter umworben wurde: „Als er wegging, schnappten sich die Leute das Mädchen, banden sie an einen Baum und erstachen sie und aßen alles, was sie konnten. Sie waren hungrig und wollten essen. Überall auf der Insel konnte man sehen, wie Menschenfleisch gerissen, geschnitten und an Bäume gehängt wurde. Die Lichtungen waren mit Leichen übersät."

„Ich suchte mir diejenigen aus, die nicht mehr lebten, aber auch noch nicht tot waren", sagte ein Häftling namens Uglow, der des Kannibalismus beschuldigt wurde, später bei Verhören aus. „Man konnte sehen, dass eine Person sowieso in ein oder zwei Tagen sterben würde. Es wäre also einfacher für sie zu sterben ... jetzt, sofort, anstatt noch zwei oder drei Tage zu leiden." 

Theophila Bylina, eine andere Bewohnerin des Dorfes Nazino, erinnerte sich: „Die Deportierten kamen manchmal in unsere Wohnung. Einmal kam eine alte Frau von der Todesinsel. Sie wurde weiter deportiert... Ich sah, dass der alten Frau die Waden abgehackt worden waren. Als ich sie fragte, antwortete sie: ‚Die wurden auf der Todesinsel abgeschnitten und gegrillt.‘ Das ganze Fleisch an ihren Waden war abgeschnitten worden. Ihre Beine froren die ganze Zeit und die Frau wickelte sie in Lumpen. Aber sie war in der Lage, ohne fremde Hilfe zu gehen. Sie sah zwar alt aus, aber in Wirklichkeit war sie Anfang 40."

Einen Monat später wurden die hungrigen, kranken und erschöpften Menschen, die durch die winzigen Lebensmittelrationen, die gelegentlich an sie verteilt wurden, überlebt hatten, von der Insel evakuiert. Sie starben jedoch weiterhin in den sibirischen Siedlungen bei dem Versuch, mit mageren Rationen in den kalten und feuchten Baracken zu überleben, die nicht zum Wohnen geeignet waren. Am Ende überlebten von den 6.000 Menschen nur etwas mehr als 2.000.

Eine geheime Tragödie

Diese Tragödie wäre außer den Anwohnern niemandem bekannt gewesen, wäre da nicht Wassili Welitschko gewesen, ein Instrukteur des Narymer Kreiskomitees der Kommunistischen Partei. Er wurde im Juli 1933 in eine der Arbeitssiedlungen geschickt, um zu berichten, wie die „deklassierten Elemente" dort erfolgreich umgesiedelt wurden. Stattdessen vertiefte er sich völlig in eine Untersuchung der Geschehnisse.

Welitschko schickte seinen detaillierten Bericht, der auf den Aussagen von Dutzenden von Überlebenden basierte, an den Kreml, wo er für Aufsehen sorgte. Eine Sonderkommission, die in Nazino eintraf, führte eine gründliche Untersuchung durch und fand 31 Massengräber auf der Insel, in denen jeweils 50 bis 70 Leichen lagen.

Mehr als 80 Deportierte und Wächter wurden angeklagt, darunter 23, die wegen „Plünderung und Körperverletzung" und elf, die wegen Kannibalismus zur Todesstrafe verurteilt wurden.

Dann wurden die Details des Falles geheim gehalten, zusammen mit dem Bericht von Wassili Welitschko. Als Kriegsberichterstatter überlebte er den Zweiten Weltkrieg und schrieb mehrere Romane über die sozialistischen Umgestaltungen in Sibirien, aber er wagte es nie, über die „Insel des Todes“ zu schreiben.

Die breite Öffentlichkeit erfuhr erst in den späten 1980er Jahren, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, von der Nazino-Tragödie.

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