Im Petrowski Palast (das Warten auf den Frieden) von Wassili Wereschtschagin
Vasily VereshchaginIm Jahr 1806 wurde Napoleon Bonaparte, der „Feind des Friedens und der seligen Stille“ auf Beschluss der Heiligen Synode zu einem Verfolger der Kirche Christi erklärt. Dies geschah vor dem Hintergrund der Bildung der Dritten Koalition gegen Napoleon und der bevorstehenden militärischen Auseinandersetzung zwischen der russischen Armee und den Franzosen. Unter diesen Umständen beschlossen die russischen Ideologen, dem künftigen Krieg einen heiligen Charakter zu verleihen. Doch 1807 schlossen Russland und Frankreich in Tilsit Frieden, und bis 1812 hatte der russische Staat Napoleon, den Antichristen, scheinbar „vergessen“.
Treffen der Monarchen auf der Memel bei Tilsit von Adolphe Roehn
Palace of VersaillesDie ältere Generation, die die Freundschaft zwischen Kaiser Paul I. und Napoleon miterlebt hatte, schätzte den Franzosen als Restaurator der französischen Monarchie und als Verkörperung einer starken autokratischen Macht. So hing beispielsweise im Herrenhaus der älteren Verwandten des berühmten Dichters Afanasij Fet seit Ende des 18. Jahrhunderts ein Porträt Napoleons, das erst nach 1812 entfernt wurde.
Im Großen und Ganzen hatte Napoleons Image für die Russen zu dieser Zeit zwei Facetten. „Er verschwand, gleich einem bösen Traum am Morgen!“, schrieb der 15-jährige Alexander Puschkin in seinem Gedicht „Erinnerungen in Zarskoje Selo“. Mit der Zeit ändert sich jedoch die Haltung des Dichters gegenüber Napoleon. Im Jahr 1824 nannte er ihn „Der Erde wunderbarer Gast“. In „Eugen Onegin“ (1823-1830) schließlich gibt Puschkin seine abschließende Einschätzung des Zaren: „Die anderen halten wir für Nullen, // Als Einsen sehen wir uns selbst. // Wir schauen auf zu den Napoleons; // Millionen zweibeiniger Viecher // Sind für uns nur Instrument“.
Die letzten Tage Napoleons von Vincenzo Vela,1867
Rauantiques (CC BY-SA 4.0)Puschkins Werk spiegelte die sich wandelnde Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber Napoleon wider. Dies wurde weitgehend durch den letzten Teil von Bonapartes Leben beeinflusst – das Bild des Gefangenen von St. Helena verlieh der Geschichte Romantik. Nach dem Tod Napoleons (am 5. Mai 1821) begann sein „Schurken-Image“ zu verblassen.
Als, wie sich der berühmte Jurist Anatoli Koni erinnerte, in den Straßen von St. Petersburg Leierkastenspieler auftraten, deren Instrumente mit Figuren des im Sterben liegenden Ex-Kaisers und weinenden Generälen um ihn herum geschmückt waren, wurde der Name Napoleon selbst zu einem Begriff.
Gleichzeitig war das Studium der wichtigsten Feldzüge Napoleons, nach den Erinnerungen von General Alexej Ignatjew, „die Grundlage der akademischen Militärausbildung“ in der russischen Armee an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Kenntnis der wichtigsten Etappen der Biographie Bonapartes wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Bildung eines jeden kultivierten Menschen.
„Vor Moskau in Erwartung der Bojaren aus der Wereschtschagins Napoleon-Zyklus
Vasiliy VereschaginEiner der wenigen, die sich der Verherrlichung Napoleons in jenen Jahren widersetzten, war der Maler Wassili Wereschtschagin. In den Jahren 1895 – 1896 fanden in Moskau und St. Petersburg Ausstellungen seines Zyklus Napoleon in Russland statt, in denen der Künstler versuchte, „den großen nationalen Geist des russischen Volkes zu zeigen“ und „Napoleon vom Sockel des Helden, auf den er gestellt wurde, zu stürzen“. Die Bilder des Zyklus zeigen Bonaparte nicht als triumphierenden Helden: Er hofft vergeblich, die Schlüssel Moskaus ausgehändigt zu bekommen, er wartet in düsterer Benommenheit auf die Nachricht vom Friedensvertrag oder er schreitet, komisch in ungarischem Mantel und Hut gekleidet, mit einem Taktstock vor der sich zurückziehenden einst großen Armee her.
„Auf der großen Straße. Rückzug“ aus der Wereschtschagins Napoleon-Zyklus
Vasiliy Vereschagin„Ist das etwa der Napoleon, den wir gewohnt sind zu sehen?“, fragte das Publikum erstaunt. Der Blickwinkel, den Wereschtschagin einnahm, fand keinen großen Anklang – für eine Reihe von Gemälden fand sich unter den wohlhabenden Russen nicht einmal ein Käufer. Erst am Vorabend des Jahrestages des Vaterländischen Krieges im Jahr 1912 kaufte die zaristische Regierung auf öffentlichen Druck hin Wereschtschagin den gesamten Napoleon-Zyklus ab.
Schließlich gab Nikolaus II. selbst, wie der Historiker Sergej Sekirinskij schreibt, „in einem Gespräch mit dem französischen Botschafter Maurice Paléologue in der Bibliothek von Zarskoje Selo, an einem Tisch mit einem Dutzend Napoleon gewidmeten Büchern, zu, dass er einen ,Kult um ihnʻ empfindet“. Und das im Jahr 1917, als der Zusammenbruch des Russischen Reiches praktisch unausweichlich war!
Während der Februarrevolution 1917 wurde der napoleonische Mythos – die Wiederherstellung der monarchischen Herrschaft durch einen unbekannten Volkshelden – in Person von Alexander Kerenski wiederbelebt: „Und einer, gefallen auf die Landkarte, // Ist im Schlaf erwacht. // Ein Hauch von Bonaparte // In meinem Land“, schrieb Marina Zwetajewa über ihn. Die Russen, die in ihrem eigenen Land eine Revolution erlebten, kamen nicht umhin, diese mit der berühmtesten Revolution der Vergangenheit – der Großen Französischen Revolution – zu assoziieren, daher das große Interesse am Mythos des Ersten Konsuls. Sowohl der Revolutionär Boris Sawinkow, als auch Lawr Kornilow, einer der Führer der Weißen Bewegung, sahen in Napoleon ihr großes Vorbild.
Die Oktoberrevolution und deren Folgen entsprachen jedoch so ganz und gar nicht dem napoleonischen Mythos und der Franzose geriet vorübergehend in Vergessenheit. Der Mythos Bonapartes wurde erst in der Stalin-Zeit wieder zum Leben erweckt.
Mit dem Ausbruch des Großen Vaterländischen Krieges nahm Napoleons Image natürlich wieder das eines Aggressor an. Der Vergleich mit Hitler sollte sowohl das Volk als auch die Armee inspirieren. „Es ist nicht das erste Mal, dass unser Volk mit einem angreifenden, arroganten Feind zu tun hat. Einst reagierte unser Volk auf Napoleons Einmarsch in Russland mit dem Vaterländischen Krieg. Napoleon erlitt eine Niederlage und kam zu Fall. So wird es auch dem Emporkömmling Hitler ergehen, der einen neuen Feldzug gegen unser Land angekündigt hat“, sagte der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow in seiner Rede am 22. Juni 1941, dem Tag des Kriegsbeginns.
Wladislaw Strscheltschik als Napoleon in dem Film „Krieg und Frieden“ von Sergej Bondartschuk.
Später wurde die Gegenoffensive von 1941 – 1942 bei Moskau in der offiziellen Propaganda mit der Niederlage und dem Rückzug Napoleons im Herbst 1812 verglichen. Darüber hinaus jährte sich 1942 die Schlacht von Borodino zum 130. Mal. Dieser Vergleich kam natürlich nicht nur den Russen in den Kopf. Der deutsche General Günther Blumentritt (1892 – 1967) schrieb, dass 1941 vor Moskau „die Erinnerung an die Grande Armée Napoleons uns wie ein Gespenst verfolgte. Es gibt immer mehr Übereinstimmungen mit den Ereignissen von 1812...“.
Hitler selbst sah sich veranlasst, auf solche Stimmungen in seiner Armee zu reagieren. In seiner Rede im Reichstag am 26. April 1942 wollte Hitler beweisen, dass die Soldaten der Wehrmacht stärker seien als die Armee Napoleons, und betonte, dass Napoleon in Russland bei -25° gekämpft habe, während die Soldaten der Wehrmacht bei -45° und sogar -52° gekämpft hätten! Hitler war auch davon überzeugt, dass es der Rückzug war, der Napoleon ruiniert hat – und die deutsche Armee hatte den strikten Befehl, sich nicht zurückzuziehen. Die deutsche Propaganda versuchte, auf der Geschichte Napoleons „aufzubauen“.
In den Jahren der späten UdSSR und des postsowjetischen Russlands hielt der französische Kaiser schließlich endgültig Einzug in die Bücherregale – als Porzellanbüste und in Form historischer Werke. Aber weder die offizielle Propaganda noch die Ideologen der Opposition benutzten aktiv den Mythos Bonapartes.
Seinen letzten große Auftritt im russischen Fernsehen hatte Napoleon in einer Reihe von Werbespots: Weltgeschichte. Bank Imperial, produziert in den Jahren 1992 – 1997 von Timur Bekmambetow. Zwei der Werbespots, die zu Klassikern der russischen Werbung wurden, nutzten das Image Bonapartes in einer schmeichelhaften Weise.
Im ersten Spot, Die Trommel, demonstriert der Kaiser Kaltblütigkeit und Furchtlosigkeit auf dem Schlachtfeld.
Im zweiten, Napoleon Bonaparte, wurde Napoleons Fähigkeit gewürdigt, sowohl Sieg als auch Niederlage mit Würde zu akzeptieren.
Der Spot zeigt die unrühmliche Flucht Napoleons nach Paris, nachdem die Reste seiner Armee den Fluss Beresina überquert hatten. „Ich wollte nur meinen Kaiser sehen“, sagt eine ältere Französin zu Napoleon, nachdem sie ihn mit der Kutsche eingeholt hat. Daraufhin schenkt Bonaparte der Frau eine Münze mit seinem Porträt und sagt: „Hier sehe ich viel besser aus“.
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