Altgläubige: Wie Russland seine eigenen „Protestanten“ bekam

Altgläubige der Region Nischni Nowgorod versammelten sich zu einem Gottesdienst.

Altgläubige der Region Nischni Nowgorod versammelten sich zu einem Gottesdienst.

Nikolai Moshkov/TASS
Russland erlebte im siebzehnten Jahrhundert seine eigene Reformation. Im Gegensatz zur europäischen Reformation wurde sie jedoch von den zentralen Kirchenbehörden mit Zustimmung des Zaren durchgeführt, und die „Protestanten“ waren diejenigen, die den „alten Glauben“ beibehalten wollten.

Der grundsätzliche Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Glauben in Russland ist bis heut noch nicht ganz geklärt. Mit wie vielen Fingern man sich bekreuzigt, wie man sich beim Beten verbeugt und wie man im Gottesdienst das Halleluja singt – das sind wahrscheinlich die wenigen „Unterschiede“, die die Orthodoxen heute von den Altgläubigen unterscheiden. Vor einem halben Jahrhundert hat die Russisch-orthodoxe Kirche die Altgläubigen endlich anerkannt und setzt sich heute für eine Wiedervereinigung mit ihnen ein. Im 17. Jahrhundert verursachte die vom Patriarch Nikon von oben durchgeführte Kirchenreform jedoch einen echten Umbruch in der Gesellschaft, dessen Spuren bis in die heutige Zeit reichen.

„Zu jener Zeit verdarb der Abtrünnige Nikon den Glauben und die Gesetze der Kirche“, schrieb der erste russische Altgläubige, der Protopope (Erzpriester) Awwakum. Nikon, der den Glauben „verdarb“, d. h. ihn verfälschte, war in Wirklichkeit eben jener Patriarch, der den Gottesdienst reformierte. Dies markierte den Beginn einer tiefgreifenden Spaltung der Russisch-orthodoxen Kirche. Aber alles der Reihe nach...

Wer war Nikon?

Patriarch Nikon

Nikon wurde in der Region Nischnij Nowgorod geboren. Bevor er Patriarch wurde, diente er als Priester, war verheiratet und hatte eine Familie. Doch seine Kinder starben und vor Kummer ging er in ein Kloster, wo er später Abt wurde. Es war üblich, dass sich neu ernannte Äbte vor dem Zaren verneigten – und Nikon hinterließ einen guten Eindruck bei Alexej Michailowitsch, den zweiten Herrscher der Romanow-Dynastie. Der Zar befahl, Nikon in seine Nähe zu versetzen und verlieh ihm einen hohen Posten in einem der Moskauer Klöster.

Der Zar nahm Nikon sogar in den so genannten Kreis der Frommen Eiferer auf, die sich selbst auch als Gottliebende bezeichneten. Ihr Ziel war es, das Niveau der Moral sowohl bei den Geistlichen als auch bei den einfachen Menschen anzuheben. Der Kreis traf sich regelmäßig und Nikon pflegte einen engen Kontakt zum Zaren.

Im Jahr 1652 starb Patriarch Joseph und Zar Alexej schlug Nikon vor, dessen Amt zu übernehmen. Nachdem er sich das Versprechen des Zaren gesichert hatte, dass dieser sich nicht in kirchliche Angelegenheiten einmischen wird, begann Nikon mit der Durchführung seiner Reformen.

Was beinhaltete Nikons Reform?

  1. Redigieren von Kirchenbüchern

Eines der größten Anliegen Nikons war die Vereinheitlichung der Kirchenbücher – noch als Mönch diente er in verschiedenen Kirchen in ganz Russland und überall unterschieden sich die heiligen Texte – sie wurden auf verschiedenste Weise übersetzt und interpretiert. Es stellte sich heraus, dass auch die Gottesdienste in ganz Russland nicht nach einer einheitlichen Liturgie abgehalten wurden. Nikons Traum war es, all diese Bücher zu abzugleichen. Er wollte sich die griechischen heiligen Texte zum Vorbild nehmen, die in Byzanz verwendet wurden, denn von dort hat Russland die Orthodoxie übernommen.

Patriarch Nikon überarbeitet Gottesdienstbücher von Alexej Kivschenko

Die Redaktion der Kirchenbücher und Schriften war also die Grundlage der Reform. Der übliche Wortlaut wurde in vielfältiger Weise korrigiert: So wurde beispielsweise der Name Jesu statt wie früher Исус (Isus) nun Иисус (Iisus) geschrieben und ausgesprochen.

  1. Darüber hinaus wurde die Ordnung des Gottesdienstes geändert. Eine der auffälligsten Neuerungen war, dass man sich nun nicht mehr mit zwei, sondern mit drei Fingern bekreuzigen musste. Nikon ordnete an, die Verbeugung bis zum Boden, das „sich Niederwerfen“, durch eine Verbeugung bis zur Hüfte zu ersetzen.
  2. Die festliche Kreuzprozession mit den Ikonen um die Kirche herum musste nun in eine andere Richtung geführt werden – nicht in Richtung der Sonne, sondern gegen die Sonne.
  3. Statt zweimal sollte nun zweimal auch während des Gottesdienstes Halleluja gesagt werden.
  4. Auch die Anzahl der in der Liturgie verwendeten Abendmahlbrote änderte sich. Nun wurden in den Liturgien nur noch fünf statt sieben Prosphoren verwendet.

Die Spaltung der orthodoxen Kirche

In den hohen Rängen des Klerus gab es viele, die mit den Reformen unzufrieden waren, und so ordnete der Zar 1654 eine Versammlung an, die als Moskauer Konzil bekannt wurde. Allerdings wurde damit nur die Frage der Korrektur der Kirchenbücher gelöst. Nikon setzte seine Reformen fort und sicherte sich dabei die Unterstützung des Zaren. Diejenigen, die sich widersetzten und „nach altem Ritus“ dienen wollten, wurden als Schismatiker und später als Altgläubige bezeichnet.

Auf einem weiteren großen Treffen des Klerus, dem Großen Konzil von Moskau 1666 – 1667, zu dem sogar der Patriarch von Konstantinopel Paisius anreiste, erklärten sie die „Abweichler“ schließlich zu Aufwieglern und beschlossen, sie zu bestrafen.

Die Verbrennung von Protopope Awwakum von Pjotr Mjasojedow, 1897

Viele Altgläubige wurden nach Sibirien geschickt, darunter auch der Protopope Awwakum, den wir eingangs zitiert haben. Er war ein streitbarer Anführer der Altgläubigen, der sich besonders aktiv gegen die Reformen aussprach. Anfangs wurde er vom Zaren persönlich vor einer schwereren Bestrafung geschützt. Nikon wurde von Awwakum als Ketzer und Abtrünniger bezeichnet. Darüber hinaus machte er Nikon auch für die Pestepidemie von 1654 – 1655 in Russland verantwortlich – er war fest davon überzeugt, dass Gott eine Strafe für dessen Sünden geschickt hatte.

Die Altgläubigen wurden auf das Brutalste verfolgt: Priestern, die gegen Nikon predigten, konnte sogar die Zunge abgeschnitten werden. Später wurde Awwakum verhaftet und hingerichtet – zusammen mit seinen Anhängern wurde er lebendig in seiner Hütte verbrannt. Es war eine der drakonischsten Hinrichtungen von Altgläubigen.

Die Bojarin Morosowa von Wassili Surikow.

Die Verhaftung einflussreicher weltlicher Altgläubiger ist auch in Wassili Surikows berühmtem Gemälde Die Bojarin Morósowa dargestellt. Eine Frau von einem Bojarengut wird in Ketten abgeführt, aber sie weicht nicht von ihrem Glauben ab und bekreuzigt sich immer noch auf die alte Weise mit zwei Fingern.

Aufstand im Solowezkij-Kloster 1666 von Sergej Miloradowitsch.

Auch ganze Klöster widersetzten sich der Reform. Das Solowezkij-Kloster widerstand  am längsten – als die zaristischen Truppen anmarschierten, um das Eigentum des Klosters zu beschlagnahmen, begegneten die Mönche ihnen mit Waffen. Infolgedessen befand das Kloster sich mehrere Jahre lang (1668 – 1676) praktisch im Belagerungszustand.

Nikons Abdankung

Die meisten Gräueltaten fanden nach Nikons Abdankung statt. Das Verhältnis des Patriarchen zum Zaren hatte sich allmählich verschlechtert – Nikon gefiel es nicht, dass die Klostergüter und die beträchtlichen Einkünfte daraus an die Staatskasse abgetreten werden sollten. Unter den Altgläubigen gab es viele einflussreiche Personen, die den Zaren gegen den Patriarchen aufbrachten. Aber abgesehen davon war Nikon selbst zu anmaßend und versuchte Historikern zufolge, die kirchliche Autorität über die staatliche Macht zu stellen.

Später sprach sich Katharina II. entschieden gegen Nikon aus, da sie glaubte, dass er versucht hatte, sich zum Papst der orthodoxen Kirche aufzuschwingen und sich den Zaren untertan zu machen. „Der Triperstismus [das sich Bekreuzigen mit drei Fingern] wurde uns von den Griechen durch Flüche, Folterungen und Hinrichtungen aufgezwungen“, sagte sie.

Gericht über Patriarch Nikon von Sergej Miloradowitsch, 1885

Letztlich verließ Nikon Moskau und begab sich gekränkt zu seinem Lehnsgut, dem Kloster Neu-Jerusalem in der Stadt Istra unweit von Moskau, das er nach dem Vorbild Jerusalems erbauen lassen hatte. Der Zar war unzufrieden und Nikon wurde in den Jahren 1666 – 1667 in derselben großen Moskauer Kathedrale vor Gericht gestellt.

Er wurde einer Reihe von Verbrechen für schuldig befunden und aller seiner Ämter enthoben. Als einfacher Mönch wurde er in Klöster im Norden – in das Ferapontow- und später in das Kirillo-Beloserskij-Klsoter – verbannt,  wo er ein Leben in Askese führte. Nach dem Tod von Zar Alexej Michailowitsch durfte der alte und kranke Nikon wieder in das Kloster Neu-Jerusalem zurückkehren, aber er starb auf dem Weg dorthin, bevor er sein Golgatha erreicht hatte.

>>> „Feuertaufe“: Wie sich Russlands Altgläubige lebendig verbrannten

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