Neujahrsfest im belagerten Leningrad: Fladen aus Kartoffelschalen und eine Scheibe Brot

TASS
Für die Bevölkerung der zweitwichtigsten sowjetischen Stadt, die unter der Belagerung und Hunger litt, gehörten die Neujahrsfeiern zu den wenigen Freuden in ihrem Leben.

Fladen aus Kartoffelschalen, Wassersuppe, Sülze aus Tischlerleim, eine Scheibe Brot und ein Löffel Gelee – das waren die „Leckerbissen“ auf den Festtafeln der Leningrader Bevölkerung am 31. Dezember 1941. Für die erschöpften und ausgehungerten Bewohner der belagerten Stadt waren sie jedoch ein wahres Festessen.

Im Kessel

Am 8. September 1941 nahmen Truppen der Heeresgruppe Nord die Stadt Schlüsselburg ein und schlossen damit den Kessel um die zweitwichtigste Stadt der Sowjetunion. Die finnische Armee blockiert Leningrad von Norden her.

Über 2,5 Millionen Einwohner der Stadt und etwa 500.000 Soldaten der Leningrader Front waren auf dem Landweg vom Rest der Sowjetunion abgeschnitten. Die einzige Verbindung zum „Festland“ verlief über den Ladogasee auf der so genannten „Straße des Lebens“, die unter ständigem Beschuss durch den Feind stand. Doch weder über diese Verbindung noch durch die sowjetische Transportluftfahrt konnte eine angemessene Lebensmittelversorgung für die Millionenmetropole gewährleistet werden.

Die Brotrationen wurden immer weiter gekürzt und mit der Zeit kam es in Leningrad zu einem Massenhunger: Die Menschen fielen bei der Arbeit vor Erschöpfung in Ohnmacht, es kam zu Fällen von Kannibalismus und Mitmenschen wurden ermordet, um deren Lebensmittelkarten zu ergattern. Zu Beginn des Winters gab es kein Strom, kein Wasser, kein Heizmaterial und die Bevölkerung gewöhnte sich an die Hunderten von Leichen auf den Straßen.

Um die apathische und deprimierte Bevölkerung aufzumuntern, beschloss die Stadtverwaltung, das Neujahrsfest 1942 offiziell zu feiern. Dies war besonders für die Zehntausenden von Kindern wichtig, die nicht rechtzeitig aus der Stadt evakuiert werden konnten.

Dem Krieg zum Trotz

Trotz des Brennstoffmangels wurden tausend Weihnachtsbäume aus den umliegenden Wäldern in die Stadt transportiert und in Schulen, Kindergärten, Theatern und Kulturzentren aufgestellt. Den Leningradern wurden – immer wieder durch Fliegeralarm unterbrochen – Theaterstücke und Konzerte vorgeführt. Den erschöpften Kindern fiel es schwer, sich auf die Vorführung zu konzentrieren, aber sie freuten sich über die Feierlichkeiten und vor allem über die Möglichkeit, anschließend eine warme Mahlzeit zu bekommen.

„Zuerst wurde uns ein Konzert gezeigt, dann gab es Suppe (kleine Nudeln, die in fast klarem Wasser schwammen) und ein Hauptgericht (Nudeln mit einer Frikadelle“, erinnert sich der damalige Schüler Isaak Basarskij: „Da ich ein Hänfling war, teilte [die Lehrerin] Alewtina Andrejewna eine Extraportion zwischen mir und einem anderen Jungen auf. Anscheinend konnte jemand nicht zur Schule kommen und seine Portion war übrig geblieben... Nach dieser Silvesternacht wurde ich irgendwie aus meinem fast todbringenden Zustand herausgerissen – diese Veranstaltung und die Leckerbissen retteten mich.“

In einem der Kindergärten erblickten die Kinder den Tannenbaum. Sie lebten zum ersten Mal seit langer Zeit wieder auf und wollten den Baum mit selbstgebastelten Weihnachtsschmuck verzieren. Der Lehrer fragte in der Küche nach Mehl, um daraus Kleister zuzubereiten. Als er ihn auf die Teller gegossen hatte, aßen die Kinder diesen jedoch sofort auf. Der Lehrer musste um mehr Mehl bitten, aber zu guter Letzt wurde der Baum noch am selben Abend geschmückt.

„Polina buk für jeden einen Fladen aus Kartoffelschalen. Woher sie die Schalen hatte, weiß ich nicht. Ich hatte zwei Packungen Tischlerleim mitgebracht, aus denen wir Sülze zubereiteten, und dazu gab es einen Teller mit „Brühe“. Am Abend gingen wir ins Theater und sahen uns das Stück Maschenka an. Aber es war sehr ungemütlich: Es war drinnen genauso kalt wie draußen und alle Zuschauer waren mit Reif bedeckt“, beschrieb der damalige Werksvorarbeiter Wladimir Fokin einen der Neujahrsfeiertage in der Stadt an der Newa. 

„Das Stück Brot war klein und wog nicht mehr als fünfzig Gramm. Ein besseres Geschenk hätte es nicht geben können. Die Kinder verstanden dies und behandelten das Stück Brot wie eine kostbare Delikatesse. Sie aßen es nach der Mahlzeit und versuchten, es so lange wie möglich zu genießen“, erinnerte sich der damalige Schüler Walentin Swonarjew.   

Unerwartete Überraschungen

Für die Kinder waren Mandarinen auf den Festtafeln ein wahres Wunder. Sie wurden eigens für die kleinen Bewohner der belagerten Stadt aus Georgien geschickt. 

Der Lastwagen von Maxim Twjordochleb, der mit diesen exotischen Früchten auf dem Eis des Ladogasees nach Leningrad unterwegs war, wurde unterwegs von zwei Messerschmitts getroffen. Die Kugeln beschädigten den Kühler und die Windschutzscheibe. Der Fahrer selbst wurde am Arm verwundet, brachte die Mandarine aber an ihr Ziel. Später wurden am Laster 49 Einschüsse gezählt.

Die Rote Armee machte den Menschen in Leningrad ein weiteres fantastisches Geschenk: Eine große Landungsoperation im Osten der Krim Ende Dezember führte zur Befreiung der Städte Kertsch und Feodosia (im Mai 1942 musste die Wehrmacht diesen Brückenkopf aufgeben). „Als das Radio (am 31. Dezember) um 6 Uhr morgens die Nachricht brachte, sprangen wir alle aus unseren Betten. Welch ein Glück!“, erinnert sich Wera Iljaschewa, damals 20 Jahre alt.

Doch nicht jeder empfand die Silvesternacht als ein Fest. „Zum ersten Mal begrüßten wir das neue Jahr auf diese Weise – wir hatten nicht einmal einen Krümel Schwarzbrot und statt um den Baum herum zu sitzen und zu feiern, gingen wir schlafen, weil es nichts zu essen gab. Als ich gestern sagte, dass das alte Jahr zu Ende geht, wurde mir gesagt: ,Zum Teufel mit diesem Jahr, zum Teufel damit!ʻ Und in der Tat, das denke ich auch und ich werde das Jahr 1941 nie vergessen“, schrieb der sechzehnjährige Borja Kapranow verbittert in sein Tagebuch. Er starb im Februar 1942.     

Eine neue Hoffnung

Leningrad überlebte den alptraumhaften Winter und erwachte im Frühjahr langsam aber sicher wieder zum Leben. In den Vorstädten entstanden Gemüsebeete, die dazu beitrugen, die Ernährung zu verbessern und die Sterblichkeit zu senken. Die Straßen der Stadt wurden vom Müll geräumt, die öffentlichen Verkehrsmittel nahmen zum Teil wieder ihren Betrieb auf und die Wohnungen wurden (wenn auch nur für sehr begrenzte Zeit) wieder mit Elektrizität versorgt.

Die Menschen in Leningrad begrüßten das neue Jahr 1943 mit viel mehr Hoffnung und Freude als 1942. „Dieses Silvester ist nicht wie letztes Jahr“, schrieb die Zeitung LeningradskajaPrawda: „Und unsere Stadt sieht anders aus: Der Puls des Lebens schlägt wieder kraftvoll, die Straßenbahnen rattern und die Autos flitzten durch die Straßen, der Schnee vom letzten Jahr ist weggeräumt, es gibt keine Müllhaufen mehr. Die Fabriken und Betriebe arbeiten mit militärischem Tempo. In den Schulen findet der Unterricht statt. Theater, Kinos sind geöffnet... Fast alle Häuser haben fließendes Wasser und die Kanalisation funktioniert. Auch unsere Menschen sind nicht mehr dieselben – sie sind körperlich stärker, kräftiger und erfahrener geworden. Dieser Wandel der Stadt, dieser Wandel der Menschen ist der größte Erfolg des vergangenen Jahres.“

Als die Leningrader im November und Dezember 1942 die Radioberichte über die Niederlage des Feindes in Stalingrad verfolgten, glaubten sie, dass das militärische Glück eines Tages auf ihrer Seite sein würde. Und sie mussten nicht lange warten: Am 18. Januar 1943 durchbrachen die sowjetischen Truppen während der Operation Iskra die Blockade der Stadt und am 7. Februar traf der erste Zug mit Lebensmitteln in Leningrad ein.    

>>> Dunkles Kapitel: Wie die Sowjetbürger Neujahr im Zweiten Weltkrieg feierten

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