Wie die kommunistische UdSSR beinahe eine freie Marktwirtschaft wurde (FOTOS)

Geschichte
RUSSIA BEYOND
In den 1920er Jahren brachten die Bolschewiki kurzzeitig das Privateigentum und den Markt zurück ins Land.

Nach der Revolution von 1917 und dem Bürgerkrieg in Russland war die Wirtschaft praktisch zerstört, und das Land von einer Hungersnot bedroht. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs und es kam zu antibolschewistischen Demonstrationen. 

Um diese Situation zu überwinden und ihre Machtposition zu erhalten, unternahmen die Bolschewiki 1922 den unerwarteten Schritt, das private Unternehmertum im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen wieder einzuführen. Diese Lockerungen gingen als „Neue Wirtschaftspolitik“ (NEP) in die Geschichte ein. 

Die neue Politik betraf in erster Linie den Lebensmittelsektor. Die enorme Lebensmittelsteuer, die während des Bürgerkriegs eine schwere Belastung für die Bauern darstellte, wurde stark reduziert. Außerdem durften Privatpersonen mit überschüssigen Lebensmitteln handeln. 

Statt Lebensmittelrationen zu erhalten, wurden die Menschen nun mit Geld bezahlt, mit dem sie ihre eigenen Lebensmittel kaufen konnten. Es war auch erlaubt, privat Arbeitskräfte einzustellen und sogar kleine Privatunternehmen zu gründen. Im Land des siegreichen Kommunismus war der freie Markt erlaubt. 

Neben den privaten Geschäften entstanden Trinkhallen, Kabaretts und Restaurants. Die Menschen fühlten sich nach dem blutigen Krieg frei und erholt.

Besonders deutlich waren die Auswirkungen der NEP-Ära auf die Mode - es war keine Schande mehr, sich „bürgerlich" zu verhalten und sich um sein Äußeres zu kümmern. 

Die Arbeitskleidung wurde durch modische Outfits ersetzt: Frauen trugen Hüte, Strümpfe und schicke Kleider, und zum ersten Mal schnitten sie sich die Haare kurz und trugen Locken à la Zelda Fitzgerald. Die Männer hingegen kleideten sich in aufwändige dreiteilige Anzüge mit Hosenträgern. 

Der Geist der NEP-Ära, der dem Kommunismus unglaublich fremd war, drang auch in die Kultur ein und setzte die Traditionen der Avantgarde fort. Künstler, Designer, Musiker und Filmemacher führten gewagte Experimente durch... 

Die Atmosphäre der NEP-Ära in Moskau und Petrograd (dem heutigen St. Petersburg) könnte man durchaus mit einer bescheidenen Version der amerikanischen Roaring Twenties und der Anziehungskraft von „The Great Gatsby“ vergleichen. In den frühen 1920er Jahren ähnelten die beiden Städte Berlin oder Paris. 

Die NEP-Ära war jedoch nicht von langer Dauer. Sie war nicht in der Lage, die wirklichen wirtschaftlichen Herausforderungen zu lösen, denen sich das Land gegenübersah. Bereits 1927 reichten die Lebensmittel nicht mehr aus, um die Arbeiter und Angestellten in den Städten zu versorgen, und die kleinen Erzeuger und Ladenbesitzer konnten das Land nach den Verwüstungen des Bürgerkriegs nicht mehr ernähren. 

Außerdem brauchte Russland offensichtlich eine rasche Industrialisierung, um der Gefahr einer ausländischen Intervention begegnen zu können. Zudem gab es einen ideologischen Grund: Viele Bolschewiki in der Parteiführung waren besorgt, dass der „verabscheuungswürdige“ Kapitalismus wieder in das Land eindringen würde. 

Die Sorge um Nahrung, Vergnügen und Kapitalgewinne begann als Rückkehr zur bürgerlichen Lebensweise wahrgenommen zu werden, was der Ideologie der Revolution widersprach.

Die reich gewordenen „NEP-Männer“ wurden als Reinkarnation von Ausbeutern und Feinden der Arbeiterklasse wahrgenommen. Der Begriff „NEP-Mann“ wurde in der sowjetischen Propaganda ebenso abwertend verwendet wie der Begriff „Bourgeois".

Der Beginn der Rückabwicklung der NEP war der erzwungene Entzug von Getreide bei den Bauern im Jahr 1928. Auf dem Parteitag im April 1929 wurde der Plan zur Zwangsindustrialisierung der UdSSR, der das Ende der Marktwirtschaft und ihre totale Zentralisierung bedeutete, verabschiedet. Infolgedessen nahm der Staat die Kontrolle über alle „Unternehmen" wieder in seine Hände.