Товар выбросили (tawár wýbrosili, dt.: die Ware wurde weggeschmissen oder die Ware wurde heraus geworfen) war ein Begriff, den die Sowjetbürger ganz anders verstanden als ihre Zeitgenossen im Westen. In der UdSSR bedeutete es nämlich, eine begehrte Ware in das Ladenregal zu legen. Solche Waren waren oft in wenigen Minuten bereits wieder vergriffen. Einige von ihnen gelangten gar nicht erst in die Läden und kamen gleich auf den Schwarzmarkt.
In den letzten Jahrzehnten des Bestehens der UdSSR wurde die Warenknappheit im Land extrem. Die sowjetische Planwirtschaft trug den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen nicht Rechnung. In einem tadschikischen Dorf in den Bergen konnte man einen teuren Herrenanzug finden, von dem es vielleicht nur ein Exemplar gab, dafür aber in der richtigen Größe. Das allumfassende staatliche Monopol, das Fehlen des Privatsektors, die zentrale Planwirtschaft und die Preisbindung, die Angebot und Nachfrage vollkommen ignorierte – all dies führte zu einem chronischen Mangel an Alltagsgütern, vom Toilettenpapier über Orangen und Seife bis hin zu Streichhölzern.
Es wurde viel getrickst, um das zu bekommen, was man wollte. „Die Menschen waren einfallsreich, sie kannten das System, wussten, wo sie anrufen und wo sie was bekommen konnten. Gleichzeitig war es aber auch sehr anstrengend. Ich kenne die Geschichte unserer Familie: wie Kartoffelsäcke zerschnitten, mit Farbe bemalt und an die Wand geklebt wurden, so dass sie eine Art Raufasertapete ergaben“, erinnert sich die Bloggerin Jekaterina, die ihre Kindheit in der Sowjetunion verbrachte.
Der Held des sowjetischen Films Menschen und Schaufensterpuppen bemerkt ein sehr typisches Zeichen der Zeit: „Es gibt eine Vorstellung im Theater – die Premiere findet statt. Wer sitzt in der ersten Reihe? Angesehene Leute sitzen da: der Direktor der Kaufhalle, der Leiter des Lagers... Alle Chefs der Stadt lieben den Leiter des Lagers. Er hat den Daumen auf den begehrten Waren!“
Die Freundschaft mit einem Laden- oder Lagerleiter oder einem einfachen Verkäufer war in Zeiten des Defizits Gold wert, denn diese Leute wussten genau, was wann im Laden erscheinen würde. Jeder war auf der Suche nach dieser Art von Freundschaft oder nach jemandem, der so jemanden kannte. „Sie brachten abends knappe Waren in den Laden, Wurst zum Beispiel – eine der Verkäuferinnen gab einer Freundin Bescheid. Diese leitet die Nachricht Morgen gibt es Würstchen! sogleich an eine ihrer Freundinnen weiter. Die erzählt es dann ihrer Schwester, ihrer Schwiegermutter, einer Cousine, der Lehrerin ihres Sohnes und ihrem Chef – alles im Vertrauen. Das führt dazu, dass sich gegen Abend eine Menschentraube vor dem Eingang des Lebensmittelgeschäfts bildet“, erzählt Raissa Kobsar aus Krasnojarsk, die über 40 Jahren als Verkäuferin hinter der Ladentheke stand.
Doch selbst das „Geheimwissen“ über den nächsten „Rausschmiss“ war keine Garantie dafür, dass man die begehrte Ware auch wirklich ergatterte. Stundenlanges Anstehen war ein untrennbarer Bestandteil der Mangelwirtschaft. Manchmal stellten die Leute sich bereits nachts an. Sie schrieben sich mit einem Stift die Position in der Schlange auf die Handfläche. Manche Leute stellten sich sogar nur deshalb an, um ihren Platz in der Schlange später zu verkaufen.
„Ich habe vier Stunden lang nach einer Jacke für meinen Sohn angestanden. Meine Mutter passte solange auf ihn auf, während ich in der wütenden Menschenmenge stand, die gegen die geschlossenen Türen drückte, und fast erstickte. Sie ließen jeweils zehn bis zwölf Leute durch. Das Kinderwarengeschäft lag gegenüber dem Polizeirevier, und schließlich kamen zwei Polizisten her geeilt, damit die Tür nicht eingetreten wurde. Was kurz darauf dann auch passierte“, erinnert sich Iriss, die in der Nähe von Moskau lebt.
Familien aus der Nachbarschaft schlossen sich oft zusammen und stellten sich nach verschiedenen Waren an, um dann die „Beute“ untereinander zu tauschen.
„Defizitartikel wurden nur während der Arbeitszeit ,heraus geschmissenʻ, und ich hatte keine Möglichkeit, etwas zu kaufen. Und die Spekulanten kauften sofort den Großteil der Waren an der Hintertür auf“, berichtet Tatjana aus Kaluga.
In der Sowjetunion war Spekulation eine Straftat, die mit zwei bis sieben Jahren Gefängnis geahndet werden konnte. Aber für diejenigen, die bereit waren, Risiken einzugehen, war es ein lohnendes Geschäft. In Ermangelung von Zeit oder Gelegenheit kauften die einfachen Leute bei ihnen Waren, wenn auch mit einem hohen Preisaufschlag. Die Spekulanten hingegen hatten in der Regel einen „kurzen Draht“ zu den Direktoren der Lagerhäuser und Geschäfte. Die Abteilung für die Verhinderung des Diebstahls sozialistischen Eigentums (OBChSS) organisierte Razzien, um sowohl die Einen, wie auch die Anderen zu fassen. Aber auch die Mitarbeiter der OBChSS litten unter der Mangelwirtschaft, so dass die Geschäfte manchmal vor den Kontrollen gewarnt wurden – im Austausch gegen Wurst, Fisch und andere begehrte Waren.
Die Schieber (auf Russisch: Farzowstschiki) waren diejenigen, die importierte Waren verkauften. Es war einfach unmöglich, diese in den staatlichen sowjetischen Geschäften zu erwerben (mit Ausnahme der Valutageschäfte Berjoska, in denen mit den Dollars, die einige wenige Sowjetbürger – diplomatisches, technisches und militärisches Personal, das im kapitalistischen Ausland tätig war – einkaufen konnten). Das Angebot diese Spezialgeschäfte, die mit den Intershops der DDR vergleichbar waren, reichte von Bubblegum und West-Zigaretten bis hin zu ausländischen Haushaltsgeräten und Marken-Jeans.
Die Schieber kauften diese Waren direkt von Ausländern, die vorübergehend in der Sowjetunion arbeiten, von Personen, die beruflich in engem Kontakt mit ihnen standen (Taxifahrer, Diplomaten, Reiseleiter und Dolmetscher) oder von ausländischen Touristen.
Marken-Jeans konnte man bei einem Schieber für 150 Rubel kaufen, während der durchschnittliche Monatslohn in den Siebziger- und Achtzigerjahren zwischen 80 und 200 Rubel lag. Wie die Spekulanten bewegten sich auch die Schieber außerhalb des Gesetzes, aber sie schufen ein ganzes Untergrundimperium.
Zu guter Letzt war auch es möglich, in eine andere Stadt zu fahren, um knappe Lebensmittel und andere Defizitwaren zu kaufen. Das scheint der zeitaufwändigste Weg gewesen zu sein, war es aber eigentlich nicht. In der Sowjetunion gab es gut versorgte Städte, die im Gegensatz zu den Provinzen ein besseres Warenangebot hatten. Dies waren Moskau, Leningrad (heute St. Petersburg), die Zentren der Sowjetrepubliken und die „geschlossenen“ Städte, in denen sich wichtige Rüstungsbetrieb oder Forschungseinrichtungen befanden. Diejenigen, die nicht auf andere Weise Lebensmittel ergattern konnten, fuhren daher mit Zügen oder Bussen in die nächstgelegene Stadt mit besserem Versorgungsgrad.
Das Kaufhaus GUM am Roten Platz.
Daniel SIMON/Gamma-Rapho via Getty Images„Zu Sowjetzeiten fuhren die Menschen nach Moskau und standen jeweils vier bis sechs Stunden an, um die begehrten Waren zu kaufen. Dies war nichts Ungewöhnliches. Zuerst fuhr man in das Kaufhaus GUM oder ZUM, in die Petrowskij-Passage, zu den Läden Moskwítschka oder Sintétika auf dem Kalinin-Prospekt, später dann, am Abend, klapperte man die kleinen Lebensmittelläden in der Pjatnizkaja-Straße ab, um ein ,Familien-Gedeckʻ zusammenzustellen: Käse, Wurst, Butter, Import-Hühnchen, Mayonnaise in kleinen Gläsern und der obligatorische frisch gemahlene Kaffee. Und dann roch es in der S-Bahn auf dem Heimweg nach Kaffee, Orangen und Würstchen“, erinnert sich Iriss.
Doch selbst in Moskau wurde in den kargen Achtzigerjahren das Problem der Warenknappheit akut. Waren wurden deshalb zum Teil nur gegen Vorlage einer Moskauer Karte verkauft, die lediglich Personen besaßen, die in Moskau gemeldet waren. Natürlich waren von diesen Karten auch viele Fälschungen im Umlauf, aber der Strom der „Würstchen“-Züge ließ doch merklich nach.
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