In den Dreißigerjahren wurden Kleidung und Schuhe in der UdSSR rationiert, so dass ein großer Teil der Bevölkerung diese Dinge nur als Befriedigung der Grundbedürfnisse wahrnahmen. Auch wenn es mehrere Textilfabriken gab, herrschte doch ein katastrophaler Mangel an Qualitätsstoffen.
Die sowjetische Führung hoffte, diese Situation durch die Wiederherstellung der Beziehungen zu Europa zu ändern. Im Mai 1935 wurde ein französisch-sowjetischer Militärpakt über gegenseitige Unterstützung unterzeichnet und bereits am Jahresende fand in Moskau eine französische Handelsausstellung statt. Unter den Teilnehmern war auch Elsa Schiaparelli, eine in Paris arbeitende Italienerin. Als Vertreterin der Modeindustrie sollte sie Vorschläge für das zukünftige Aussehen der sowjetischen Frauen unterbreiten.
Kleidung für die „Durchschnittsbürgerin“
Auf der Ausstellung präsentierten neben der Designerin auch große Textilunternehmen, Hersteller von Handschuhen, Parfüms, Likören und Schaumwein ihre Produkte. Schiaparelli erhielt einen bescheidenen Stand, den sie mit Schals dekorierte, die Zeitungsausschnitte als Muster hatten. Auf einem Tisch vor dem Stand legte sie ausländische Modezeitschriften aus, die sofort das Interesse der Besucher weckten – das war etwas vollkommen Neues für die Sowjetmenschen.
Schiaparelli erinnerte sich später in ihrem Buch Mein schockierendes Leben an diese Reise. Ihrer Meinung nach wollte Stalin damals, dass die sowjetischen Soldaten gut geschnittene Uniformen trugen und ihre Frauen lernten, sich gut zu kleiden. Es gab auch eine Trennung zwischen Arbeits- und Festkleidung: Selbst Fabrikarbeiterinnen brauchten Abendgarderobe, um zum Beispiel ins Theater zu gehen. Eben diese Art femininer Kleidung versuchten die sowjetischen Modedesigner zu entwickeln.
Schiaparelli wurde eingeladen, eine Modenschau im neuen Modehaus an der Sretenka im Zentrum von Moskau zu eröffnen. Ihre Kleider sollten „Bekleidung für die Durchschnitts-Sowjetbürgerin sein, die jede Frau – unabhängig von ihren Lebensumständen – kaufen und tragen konnte“. Das Modehaus war damals buchstäblich ein Zentrum für die gesamte Sowjetunion: Von hier aus wurden Kleidungsstücke mit Skizzen, technischen Beschreibungen und Schnittmustern an Bekleidungsfabriken im ganzen Land zur Massenproduktion geliefert.
Die Designerin hat sich ein Outfit ausgedacht, aber ganz in ihrem Stil – ein schlichtes schwarzes Kleid mit hohem Kragen, das man sowohl zur Arbeit als auch zum Theaterbesuch tragen konnte. Dazu gehörte ein weiter roter, schwarz gefütterter Mantel mit großen Knöpfen und eine Strickmütze aus Wolle, die mit einem Reißverschluss versehen war. Eine Legende besagt, dass den sowjetischen Beamten die großen Taschen des Mantels nicht gefielen, da diese in öffentlichen Verkehrsmitteln Diebe anlocken könnten, eine andere, dass das Kleid zu schlicht erschien. In jedem Fall wurde diese Kombination nie in Serie produziert.
Inspiriert durch das Land der Sowjets
Schiaparelli beschreibt in ihren Memoiren, wie sie von den Chiffon-, Spitzen- und Samtkleidern, die sie an den Schaufensterpuppen im Modehaus sah, beeindruckt war. So hatte sie sich die Kleidung der sowjetischen Frauen überhaupt nicht vorgestellt.
„Obwohl die Behörden den Verbrauchern Muster exquisiter Kleidungsstücke präsentierten, waren sie immer noch nicht in der Lage, ein angemessenes Produktionsniveau zu gewährleisten“, schreibt die Historikerin für sozialistische Mode Djurdja Bartlett in ihrem Buch FashionEast: The Spectre that Haunted Socialism. Die eleganten Kleider aus den Vitrinen des Modehauses wurden in Theater- und Filmproduktionen verwendet und waren nur einem sehr kleinen Personenkreis zugänglich, hauptsächlich den Ehefrauen der sowjetischen Nomenklatura und Filmstars.
Die Designerin ließ die Ablehnung durch ihre sowjetischen Kollegen kalt und sie hatte diese Episode bald schon wieder vergessen. Aber sie fand Inspiration auf ihren Reisen in der UdSSR: Auf einem Flugplatz in Moskau erlebte sie eine ungewöhnliche Szene mit Fallschirmspringern, die innerhalb von Minuten nach der Landung ein Feldlazarett errichteten. Im folgenden Jahr präsentierte sie in Paris ihre Frühjahr/Sommer-Kollektion Parachute. Sie basierte auf einem Kleid mit einem schmalen Mieder und einem bauschigen, in Sektoren unterteilten Rock. Wenn das Modell darin über den Catwalk schritt, glich es einer Blume, die sich auf dem Wasser wiegte.