„Und das Bier wurde mit dem Schlitten gebracht“
Am Anfang, im 15. und 16. Jahrhundert, bewirteten die Moskauer Fürsten und Zaren noch jeden Botschafter persönlich. Im 17. Jahrhundert nahm die Zahl der ausländischen Botschafter zu und nicht zu allen Staaten waren die Beziehungen gut. Seit dieser Zeit war das Essen in Anwesenheit des Zaren ein Privileg nur für die ehrenvollsten Botschaftsgäste. André Rohde, der Sekretär der dänischen Botschaft im Jahr 1659, beschreibt, wie dies ablief:
„Getränke wurden gebracht: Wein, Honig und Wodka, in sieben silbernen und vergoldeten Krügen verschiedener Größe und in fünf großen Zinnkrügen; das Bier wurde mit einem Schlitten angeliefert. Als der Tisch gedeckt war, wurden so viele Speisen gebracht, wie Platz vorhanden war und den Rest gab man unseren Dienern. Dann wurde der Gesandte zum Essen gebeten. Um den Appetit zu wecken, wurde ihm nach russischer Sitte zunächst ein ziemlich starker Wodka in einer sehr schönen, mit Gold gefassten Tscharka angeboten. Dann wurde jedem, der am Tisch saß, ein großes Glas Rheinwein eingeschenkt, aber in Erwartung des Trinkspruchs hatte noch niemand gewagt, es zu berühren“, schrieb Rohde.
Eine Tscharka war im 17. Jahrhundert ein Trinkgefäß und gleichzeitig ein Volumenmaß, das 123 Milliliter betrug. Und was haben die Russen selbst bei solchen Festen gemacht? Nach Ansicht der russischen Würdenträger und des Adels jener Zeit war es eine respektable Angelegenheit, sich bei einem Bankett am Zarenhof, ja bei jedem Bankett, zu betrinken und dem Gastgeber Respekt zu erweisen. Wie ein weiterer Moskauer Gast des 17. Jahrhunderts, der österreichische Diplomat Augustin von Meyerberg, bemerkte, „ist die Trunkenheit das Höchstmaß und niemand verlässt den Speisesaal, ohne hinausgeführt zu werden“. Übrigens war Meyerberg kein großer Liebhaber russischer Botschafterempfänge. Bei einem seiner Besuche war er zu Gast bei Afanassij Ordin-Nastschokin, dem faktischen Chefdiplomaten Russlands. Mit Erleichterung stellte Meyerberg fest, Nastschokin war „kein törichter Nachahmer unserer Sitten, mit freundlicher Höflichkeit entband er uns von der Art zu trinken und dem Gesetz, sich bis zum Exzess zu berauschen.“
„Gäste gut zu empfangen bedeutet, sie betrunken zu machen“
Wodka („Brotwein“, wie man ihn damals in Moskau nannte) war der Hauptbestandteil der Verpflegung für ausländische Botschafter. Im 16. und 17. Jahrhundert war er in Moskau noch ein teures Getränk, das Monopol auf seine Herstellung lag beim Staat. So viel Alkohol erhielt zum Beispiel John Meyrick, der englische Botschafter in Moskau, unter Michail Fjodorowitsch täglich persönlich: vier Tscharkas Wodka (etwa einen halben Liter), einen Humpen (1,1 Liter) Traubenwein, drei Humpen vergorener Honig, eineinhalb Humpen Honigwein und einen Wedró (dt.: Eimer, Volumenmaß , das 12,3 Liter entsprach) Bier.
Das war sicherlich weit mehr, als an einem Tag getrunken werden kann. Warum wurde dies alles getan? Natürlich, um den Reichtum und die Großzügigkeit des russischen Zaren zu zeigen und wenn möglich, herauszufinden, was die Botschafter und ihr Gefolge bei solchen Festgelagen ausplaudern konnten.
Das Festmahl für die wichtigen Botschafter endete nicht etwa im Zarenpalast. Seit dem späten 15. Jahrhundert gab es den Brauch, dem Botschafter direkt im Botschafterhof, der für die Unterbringung eines ausländischen Gastes und seines Gefolges vorgesehen war, zu „bewirten“. Wie dies ablief, wird von Sigismund Herberstein, der Moskau im 16. Jahrhundert besuchte, detailliert beschrieben:
„Nach der Verabschiedung der Botschafter bringen all diejenigen, die sie zum Palast begleitet haben, sie zum Gasthaus zurück, weil sie den Auftrag haben, die Botschafter zu amüsieren. Sie bringen silberne Schalen und Gefäße mit, jedes mit einem bestimmten Getränk, und alle versuchen ihr Bestes, um die Botschafter betrunken zu machen. Und sie verstehen es perfekt, die Leute zum Trinken zu bringen. Wenn sie keinen Grund mehr haben, den Kelch zu erheben, beginnen sie auf die Gesundheit des Zaren, des Herrschers, zu trinken und schließlich auf das Wohl derer, die sich ihrer Meinung nach durch irgendeine Würde oder Ehre auszeichnen. Sie sind der Meinung, dass niemand den Kelch zu deren Ehren ablehnen sollte oder gar kann.“
Sowohl im Zarenpalast als auch bei den „auswärtigen“ Festen an den Botschafterhöfen brachten die russischen Hofleute, die beauftragt waren, auf die Botschafter anzustoßen, eine lange Liste mit den Namen derer mit, auf die angestoßen werden sollte, damit die Gelegenheiten zum Trinken nicht ausgingen. Wie der russische Historiker Wassilij Kljutschewskij schreibt, „... erreichten die Prístawy (Hofbeamte, die den Gästen beigestellt wurden – Anm. d. Ü.) oft ihr Ziel, den Botschafter betrunken zu machen“ […]. Der beschwipste Botschafter plauderte mehr als einmal aus, was ihm befohlen worden war, für sich zu behalten.“
Was war los, wenn der Botschafter nicht so viel Alkohol vertrug? In solchen Fällen erlaubte der Moskauer Herrscher dem ausländischen Gast gnädigerweise, „nicht auszutrinken“, wie es bei Ambrogio Contarini unter Großfürst Iwan III. der Fall war.
„Seine Majestät war sehr wütend“
Aber den größten Eifer beim Abfüllen der ausländischen Botschafter und Gäste zeigte Peter der Große. Friedrich Wilhelm Berchholz, ein holsteinischer Adliger, der sich in Gesellschaft des Zaren immer wieder betrinken musste, ist dafür das beste Beispiel. „Ich hatte furchtbare Angst vor der Trunkenheit“, gestand er.
Peter achtete genau darauf, dass seine Gäste „richtig“ auf seine Gesundheit anstießen. Als der Herzog von Holstein versuchte, während des Festes verdünnten Wein zu trinken, „nahm Peter seiner Hoheit das Glas ab und gab es, nachdem er an ihm genippt hatte, mit den Worten zurück: ,Euer Wein ist nicht gutʻ“. Als der Herzog einwenden wollte, dass er sich unwohl fühle und nicht so viel trinken könne, sagte der Zar, dass verdünnter Alkohol noch schädlicher sei als reiner, „und schüttete ihm aus seiner Flasche starken und bitteren Ungarnwein ins Glas, den er gewöhnlich trank.“
Als Peter feststellte, dass jemand nicht genug trank, wurde er wütend. Wie sich Berchholz erinnert, „fand der Zar heraus, dass bei Tisch [...] nicht alle Trinksprüche mit reinem Wein getrunken wurden oder zumindest nicht mit den von ihm geforderten Weinen. Seine Majestät wurde sehr zornig und befahl allen und jedem am Tisch, zur Strafe in seiner Gegenwart ein großes Glas Ungarnwein zu trinken.“
Kurzum, Zar Peter verschonte in seiner Leidenschaft für das Zechen weder sich selbst noch andere. Schlägereien und Peinlichkeiten waren auf Hoffesten an der Tagesordnung. Berchholz schrieb: „Fürst Menschikow war so betrunken, dass er wie tot umfiel und seine Männer gezwungen waren, die Fürstin und ihre Schwester zu holen, die ihn mithilfe verschiedener Tropfen wieder zur Besinnung brachten und den Zaren um Erlaubnis baten, mit ihm nach Hause zu fahren.“
So überlebte der Herzog von Kurland Friedrich Wilhelm, den Peter mit seiner Nichte Anna Iwanowna verheiratet hatte, ein Trinkgelage mit dem russischen Zaren nicht – zwei Tage nach den Hochzeitsfeierlichkeiten starb der Frischvermählte auf dem Weg von St. Petersburg. Zeitgenossen führten den Vorfall darauf zurück, dass der junge Herzog unvorsichtigerweise beschlossen hatte, sich mit Peter in der Kunst des Trinkens zu messen. Peter der Große war jedoch der letzte der russischen Monarchen, der bereit war, so freimütig mit seinen Gästen und Untergebenen zu trinken. Unter den späteren Romanows wurde die beeindruckende russische Tradition der „Alkoholdiplomatie“ bereits nicht mehr praktiziert.