Der Islam ist heute die zweithäufigste Religion in Russland. Sie wird von etwa 20 Millionen Menschen in der Wolga-Region und im Ural, im Nordkaukasus und in Sibirien praktiziert. Wann und wie ist der muslimische Glaube entstanden?
Der Weg durch den Kaukasus
Im 7. Jahrhundert führten die Araber groß angelegte Eroberungen im Nahen Osten und Nordafrika durch und brachten den unterworfenen Völkern das Wort Allahs. Durch ihre Bemühungen verbreitete sich der Islam über das Kaukasusgebirge bis in die osteuropäische Ebene, wo sich heute der europäische Teil der Russischen Föderation befindet. Zu dieser Zeit war dieses Gebiet von heidnischen slawischen, finno-ugrischen und türkischen Stämmen bewohnt.
Im Jahr 643 eroberten die Araber die persische Festungsstadt Derbent an der Küste des Kaspischen Meeres (heute in der russischen Republik Dagestan gelegen) und nannten sie Bāb al-Abwāb. Die Stadt wurde zur wichtigsten Hochburg der Araber in der Kaukasusregion und zum Zentrum für die Verbreitung des Islams.
Der arabische Vormarsch durch das Kaukasusgebirge stieß jedoch auf den hartnäckigen Widerstand der turksprachigen Chasaren (ein heute ausgestorbenes Nomadenvolk). Denen war es gelungen, einen riesigen, mächtigen Staat zu schaffen – das Chasaren-Khaganat, das einen Teil der Gebiete des heutigen Russlands, der Ukraine und Kasachstans umfasste. Politisch abhängig von den Chasaren (Herrschern) waren damals viele Stammesverbände der Ostslawen.
Die arabisch-chasarische Konfrontation dauerte fast eineinhalb Jahrhunderte. Im Jahr 737 besiegten die arabischen Heere die Chasaren, drangen tief in ihr Land ein und erreichten die Ufer des Don. Das Oberhaupt der Charasaren, der Kagan, wurde gezwungen, sich formell dem Kalifat zu unterwerfen und im 10. Jahrhundert begannen die Chasaren, ihre Macht unter den Schlägen eines anderen mächtigen Feindes zu verlieren. Zu dieser Zeit hatte der erste zentralisierte altrussische Staat, der heute als Kiewer Rus bekannt ist, an Stärke gewonnen.
Seite an Seite mit den Muslimen
Auf den Ruinen des Chasaren-Khaganats entstand der erste muslimische Staat Osteuropas, Wolga-Bulgarien. Er wurde von den vereinigten turksprachigen bulgarischen Stämmen gegründet. Der Staat befand sich auf dem Gebiet der heutigen russischen Republik Tatarstan. Hier schlug der Islam tiefe Wurzeln.
Im Jahr 921 empfing Jaffar al-Muqtadir, der Kalif von Bagdad, Gesandte von Almusch, dem Herrscher von Wolga-Bulgarien, die ihn baten, Prediger zur Verbreitung seines Glaubens sowie Moscheebauer zu entsenden. Der Kalif, der die Chance hatte, seinen Einfluss zu vergrößern, zögerte keine Minute.
Infolgedessen wurde Wolga-Bulgarien zum muslimischen Zentrum Osteuropas. Hier wurden aktiv Moscheen, Schulen, Bibliotheken errichtet, die arabische Schrift, und mit ihr die Werke führender arabischer Wissenschaftler und islamischer Seminaristen erweitert.
Die Bulgaren waren einer der Hauptkonkurrenten der Rus, aber gleichzeitig wurden die Slawen durch sie in die Welt des arabischen Ostens eingeführt: Es wurden politische, Handels- und kulturelle Kontakte geknüpft. Fürst Wladimir Swjatoslawitsch von Kiew erwog sogar, den Islam als Staatsreligion anzunehmen.
986 trafen bulgarische Botschafter beim Fürsten ein, die beabsichtigten, die Bewohner der Rus „aus der Finsternis des Heidentums“ herauszuführen. Wie die Nestor-Chronik jedoch bezeugt, war der Fürst mit einigen muslimischen Zeremonien nicht einverstanden, insbesondere mit dem Verbot, Wein zu trinken. „Russland hat Spaß am Trinken: Wir können nicht darauf verzichten“, erklärte er. Wladimir entschied sich daher für die Taufe nach dem „griechischen“ (byzantinischen) Ritus.
Im 13. Jahrhundert wurde Wolga-Bulgarien zusammen mit den russischen Fürstentümern von der mongolischen Invasion hinweggefegt. Die Stellung des Islam in diesen Ländern wurde dadurch jedoch nicht erschüttert, da die Eroberer alle Glaubensrichtungen tolerierten. In den 1320er Jahren wurde der Islam zur vorherrschenden Religion in der Goldenen Horde selbst.
Im 15. Jahrhundert zerfiel die Goldene Horde in zahlreiche Khanate (Kasan, Astrachan, Sibirien, Krim und andere), die nach und nach in den russischen Staat eingegliedert wurden. Insgesamt dauerte der Prozess der Eingliederung muslimischer Gebiete zu Russland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.