Wie ein Abenteuerroman einen Schriftsteller im Gulag rettete

Russia Beyond (Bessmertny barak; Detgis, 1958)
Die Entstehungsgeschichte von Robert Stilmarks „Der Erbe aus Kalkutta“ ist selbst wie die Handlung eines Abenteuerromans.

18. Jahrhundert. Indischer Ozean. Ein Piratenschiff, das von einem einäugigen Kapitän geführt wird, kapert das Schiff, auf dem der Erbe eines Grafentitels mit seiner Braut von Kalkutta nach England segelt. Einer der Piraten nimmt die Papiere des Grafen an sich und segelt unter dessen Namen – und mit dessen Braut – nach England.

Dies ist die Handlung des Abenteuerromans „Der Erbe aus Kalkutta“. Was hat Russland damit zu tun, werden Sie sich fragen? Die Tatsache, dass dieses Buch von einem sowjetischen Schriftsteller geschrieben wurde und noch dazu in einem Gulag, half diesem, dort zu überleben. Aber das Wichtigste zuerst.

Für „Gemunkel“ in den Gulag gekommen

Robert Stilmark

Robert Stilmark war ein sowjetischer Schriftsteller deutscher und schwedischer Abstammung, der 1909 in Moskau geboren wurde. Nach seinem Abschluss an einem der ersten sowjetischen Literaturinstitute wurde er Auslands-Journalist, pflegte die kulturellen Beziehungen zu Schweden und arbeitete für große Literatur- und Kunstzeitschriften.

Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er in einer Aufklärungseinheit der Roten Armee und wurde schwer verwundet. Danach absolvierte er eine Ausbildung zum Militärtopographen und diente im Generalstab. Im April 1945, nur einen Monat vor Kriegsende, wurde Robert verhaftet und nach § 58-10 „Konterrevolutionäre Propaganda“ oder „Gemunkel“, wie es im Volksmund hieß, zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Angeblich missbilligte Stilmark Stalins Umbau Moskaus – den Abriss des Sucharew-Turms und des Roten Tors – sowie die Umbenennung von Städten nach sowjetischen Funktionären.

Robert verbrachte drei Jahre in Gefängnissen und Lagern in der Nähe von Moskau, bevor er in den Norden verlegt wurde, wo der Bau der „Transpolaren Eisenbahnlinie“, eines der ehrgeizigsten Projekte des Gulags, gerade begonnen hatte. Sie sollte die nördlichen Teile des Landes von der Barentssee bis Tschukotka durch das Sumpfland der Tundra verbinden.

Verlassene Baustelle 501.

Stilmark wurde einer Baustelle des östlichen Abschnitts des Abschnitts Salechard-Igarka zugeteilt. Das Projekt wurde nie vollendet – nach Stalins Tod wurde es eingestampft und ein Großteil der Häftlinge erhielten eine Amnestie.

Er schrieb einen Roman, um zu überleben

Im Lager saßen die politischen Häftlinge zusammen mit gewöhnlichen Kriminellen. Viele von ihnen bemühten sich um die Gunst der Lagerleitung und sogar um „Führungspositionen“ in der Gefangenenhierarchie. Einer von ihnen war Wassilij Wassilewskij, der die Gefangenen für den Arbeitsdienst einteilte.  

Wassilewskij fand heraus, dass Stilmark einen literarischen Hintergrund hatte und entwickelte einen für beide Seiten vorteilhaften „Plan“. Er befreit den Neuankömmling von der harten Arbeit, und dieser schrieb im Gegenzug einen historischen Roman für ihn. Wassilewskij hatte irgendwo gehört, dass Stalin solche Bücher liebt, und hoffte, dem Generalissimus in seinem Namen ein solches „Geschenk“ zu schicken, um eine Amnestie zu erwirken oder zumindest die Lagerzeit zu verkürzen.

Die Arbeit am Polarkreis versprach nichts Gutes, außer beim Holzfällen abgefrorene Finger, also stimmte Stilmark zu. Wassilewskij teilte ihn zur Arbeit im Badehaus des Lagers ein und versorgte ihn mit Papier und Tinte. 14 Monate lang arbeitete Stilmark jeden Tag 20 Stunden lang an dem Buch.

Der Roman, der die Abenteuer von Piraten auf den Meeren des Indischen Ozeans, der nordamerikanischen Indianer, des Zeitalters der großen Entdeckungen und der spanischen Inquisition beschreibt, entstand „bei einer Petroleumfunzel in einer abgelegenen Erdhütte in der Taiga, ohne jegliches Quellenmaterial, ohne einen Blick auf eine Landkarte oder in ein Buch“, wie der Autor in Briefen an seinen Sohn schrieb. Einige Informationen über das alte England erhielt er von einem inhaftierten Professor, der im Ausland gewesen war.

Jedes neue Kapitel las Stilmark den Gefangenen vor und diese warteten sehnsüchtig auf die Fortsetzung. Er war im Lager geachtet und erhielt den Spitznamen „Batja Romanist“ (dt.: Väterchen Romanschriftsteller). In seiner Autobiografie „Eine Handvoll Licht“ beschrieb Stilmark, wie Wassilewskij beschloss, einen der Häftlinge zu bestechen, um den „literarischen Sklaven“ zu töten, als der Roman fast fertig war. Stilmark hatte sich jedoch den Respekt der Kriminellen verdient und diese setzten sich für ihn ein.

Das Schicksal des Erben aus Kalkutta

Robert Stilmark.

Nach seiner Entlassung aus dem Lager im Jahr 1953 blieb Stilmark noch einige Zeit im sibirischen Exil. Er hatte seinen Roman schon fast vergessen, als er einen Brief von Wassilewskij erhielt. Der Pseudo-Autor berichtete, dass sein Manuskript beschlagnahmt worden sei und bat Stilmarks Sohn in Moskau, sich mit den Behörden in Verbindung zu setzen, um den Text des Romans zurückzuerhalten – und seine Herausgabe in einem Verlag zu ermöglichen. Stilmark schickte seinem Sohn Felix die entsprechenden Anweisungen.

Wie Felix später im Vorwort zur Autobiografie seines Vaters schrieb, wurde das Manuskript tatsächlich an ihn ausgehändigt. Der Geheimdienst sagte sogar, es sei ein gutes Werk und sollte unbedingt veröffentlicht werden. Felix gab den Text des Buches an Iwan Jefremow weiter, einen ihm bekannten Schriftsteller. Er stand dem Manuskript zunächst skeptisch gegenüber und die Lagervergangenheit des Autors war ein mögliches Hindernis für die Veröffentlichung. Aber nachdem er mit der Lektüre begonnen hatte, konnte Jefremow sich einfach nicht mehr losreißen. „Warum zum Teufel bringt mir Ihr Fedja [Felix] nicht... den dritten Band! Schickt ihn schnell zu mir! Wir drehen in der Familie fast durch, weil wir so ungeduldig sind. Ich kann meinen Sohn Allan selbst zu diesem Fedja schicken: Er sollte verreisen, aber er kann nicht wegfahren, ohne zu erfahren, wie der Roman endet“, zitiert Stilmark Jefremow in seiner Autobiografie. 

Jefremow empfahl das Buch schließlich einem Verleger. 1958 erschien „Der Erbe aus Kalkutta“ unter der Angabe von zwei Autoren im Druck: R. A. Stilmark und W. P. Wassilewskij. Der Verleger versuchte, den Autor zu überreden, den Namen des Hochstaplers zu entfernen, aber Stilmark wies das Ansinnen „aus freundschaftlicher Verbundenheit mit dem ehemaligen Lager“ und weil das Buch ohne Wassilewskij gar nicht geben würde, zurück.

Auf dem Umschlag der ersten Ausgabe stehen zwei Namen - Stilmark und Wassilewskij.

Doch dann verlangte Wassilewskij die Hälfte von Stilmarks Honorar und drohte dem „Co-Autor“ damit, dass er seine kriminellen Freunde bitten würde, sich an ihm zu rächen. Schließlich zog Stilmark vor Gericht, um sich als alleiniger Urheber anerkennen zu lassen, und zahlte nur eine kleine Summe an den „Urheber der Idee“.

Und ein weiteres unglaubliches Detail dieser Geschichte wurde enthüllt: Um seine Urheberschaft zu beweisen, verschlüsselte „Väterchen Romanschriftsteller“ eine Botschaft im Text des Romans. In einer der Passagen lauteten die Anfangsbuchstaben jedes zweiten Wortes nacheinander gelesen „falscher Schriftsteller, Dieb, Plagiator“ – und natürlich war Wassilewskij gemeint.

Im Jahr 1959 wurde der Roman unter dem Namen wie der wahren Autors veröffentlicht. Und 1989, während der Perestroika, wurde es neu aufgelegt. Viele zuvor verbotene Bücher – von Alexander Solschenizyn bis Boris Pasternak – wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die neue Welle des Leserinteresses war auch darauf zurückzuführen, dass die bis dahin geheim gehaltene Geschichte des Lagers, in dem „Der Erbe aus Kalkutta“ entstand, nun bekannt wurde.

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