Wie die Russen gegen das Oströmische Reich kämpften

Geschichte
BORIS JEGOROW
Die „Barbaren aus dem Norden“ erreichten mühelos das Herz des Reiches – Konstantinopel – und versetzten sowohl das einfache Volk als auch die byzantinischen Herrscher in Angst und Schrecken.

„Dieser barbarische Stamm hatte immer einen vehementen und wütenden Hass auf die römische Hegemonie; bei jeder passenden Gelegenheit erfanden sie den einen oder anderen Vorwurf, um einen Vorwand für einen Krieg mit uns zu schaffen“, so äußerte sich der byzantinische Schriftsteller Michael Psellos (1017-1078) über die Russen, die einige Jahrhunderte lang das oströmische (byzantinische) Reich mit Invasionen quälten.

Die Herrscher der Kiewer Rus lockte der Luxus und Reichtum der fernen römischen Hauptstadt Konstantinopel an, die sie Zargrad nannten. Allerdings blieb es nicht bei vereinzelten Plünderungszügen der Fürsten und von Zeit zu Zeit kam es zu Kämpfen mit den byzantinischen Kaisern um die Einflusssphäre in der Schwarzmeerregion.

Die russischen Feldzüge nach Byzanz begannen in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Die Fürsten versuchten, in für das Byzantinische Reich ungünstigen Situationen anzugreifen, wenn dessen Armee und Flotte in einen der nicht enden wollenden Konflikte in Asien oder auf dem Balkan verwickelt waren. Für die Feldzüge wurden in der Regel beeindruckende Streitkräfte zusammengestellt. Über einen Feldzug des Fürsten Oleg im Jahre 907 berichtet die Nestorchronik, dass er „eine Menge Waräger und Slawen und Tschuden und Kriwitschen und Merja und Polianer und Sewerianer und Drewlanen und Radimitschen und Kroaten und Duleben und Tiwerzen mit sich nahm... Und mit diesen allen war Oleg auf Pferden und in Schiffen; und es waren der Schiffe zweitausend.“

Doch selbst für ein riesiges Heer war es schwierig, Konstantinopel einzunehmen, das mit seinen mächtigen Mauern als uneinnehmbar galt. Da er die Aussichten einer Belagerung sehr gut kannte, zog es der Angreifer vor, die Umgebung der römischen Hauptstadt zu plündern und niederzubrennen. So berichten Annalen über einen Feldzug des Fürsten Igor nach Konstantinopel im Jahre 941: „Einige der Gefangenen wurden gekreuzigt, andere mit Pfeilen beschossen, ihnen wurden die Arme gebrochen und in ihre Köpfe wurden Eisennägel geschlagen. Viele heilige Kirchen wurden verbrannt und ... viele Reichtümer wurden erbeutet.“

Da die Byzantiner manchmal keine Kräfte hatten, um den „wilden Skythen“ Widerstand zu leisten, zogen sie es vor, diese zu bezahlen. Fürst Oleg erwirkte die Entrichtung von Tributen und Handelsprivilegien für russische Kaufleute allein durch die Demonstration seiner Stärke. Nach Abschluss der Verhandlungen nagelte er als Zeichen des Sieges sogar ein Schild an das Stadttor.

Trotz des erfolgreichen Beginns endete der Feldzug des Fürsten Igor im Jahre 941 mit einem Misserfolg, und drei Jahre später begann der Herrscher von Kiew, eine neue große Expedition vorzubereiten. Konstantinopel wartete jedoch nicht auf den Angriff des Feindes, sondern schickte Botschafter mit Angeboten über reiche Geschenke zu ihm. Schließlich beschlossen der Fürst und seine Mannen, die Feldzüge einzustellen.

Bei weitem nicht immer beschränkte man sich auf Raubzüge. In den Jahren 968-971 führten die Kiewer Rus und das Byzantinische Reich einen groß angelegten Krieg um das bulgarische Königreich, das Byzanz als seine Interessensphäre betrachtete. Fürst Swjatoslaw unterwarf mehrere Dutzend bulgarische Städte. „Es wird berichtet, dass er nach der Eroberung der Stadt Philippopolis zwanzigtausend Gefangene auf grausame und unmenschliche Weise aufspießte und durch diesen Schrecken erzwang, sich ihm zu unterwerfen“, schrieb der byzantinische Schriftsteller Leon Diakonos. Doch das militärische Geschick ließ den Feldherrn schließlich im Stich und er war gezwungen, mit dem Byzantinischen Reich Frieden zu schließen sowie auf alle seine Eroberungen zu verzichten.

Unter Swjatoslaws Sohn Wladimir begann eine aktive Annäherung zwischen den beiden Mächten. Der Kiewer Fürst heiratete Anna, die Schwester von Basilius II., und leitete 988 den Prozess der Christianisierung seines heidnischen Staates nach byzantinischem Ritus ein, der es den Patriarchen von Konstantinopel ermöglichte, ihren Einfluss in Russland auszuweiten.

Diese geistige Verbindung zwischen der Rus und Byzanz beendete die politische Auseinandersetzung. Jedoch im Jahre 1043, nach der Ermordung eines Kaufmanns der Rus in Konstantinopel, unternahm Wladimir, der Sohn des Fürsten Jaroslaw, einen Feldzug nach Byzanz. Alle Versuche des Kaisers, sich zu entschuldigen, wurden dabei ignoriert. Der Feldzug endete mit einer Katastrophe: In der Seeschlacht bei Iskrestu in der Nähe der oströmischen Hauptstadt wurde die Flotte der Rus vernichtet und die meisten der achthundert gefangenen Soldaten von den Byzantinern geblendet.

Im Jahr 1116 beschloss Fürst Wladimir Monomach von Kiew ein kühnes Abenteuer gegen Byzanz. Ihm stand ein Hochstapler zur Verfügung, der behauptete, Konstantin Diogenes zu sein, der längst verstorbene Sohn des abgesetzten Kaisers Romanos IV. Diogenes. Nachdem er das Recht des Schwindlers auf den byzantinischen Thron anerkannt, ihm seine Tochter Maria geschenkt und ihm sein Heer übergeben hatte, schickte Monomach den falschen Diogenes in den Kampf gegen die Truppen von Alexios I. Komnenos nach Bulgarien, das inzwischen Teil des Reiches geworden war.

Alexios I. war besorgt über eine solche Invasion. Er schickte zwei angeheuerte Attentäter zu seinem Rivalen, die ihren Auftrag erfolgreich erledigten und den falschen Konstantin Diogenes ermordeten. Bald darauf verließ die Armee der Rus ohne großen Erfolg die Grenzen von Byzanz. Damit ist der letzte große bewaffnete Konflikt zwischen zwei Staaten zu Ende gegangen. In der Mitte des 12. Jahrhunderts begann der Zerfall der einst mächtigen Kiewer Rus' in einzelne Fürstentümer, die nicht mehr von Feldzügen ins ferne Konstantinopel träumten.