Wusste Stalin, dass Hitler die UdSSR angreifen würde?

Geschichte
GEORGI MANAJEW
Stalin erhielt angeblich über 80 verschiedene Warnungen über Hitlers Absicht, die UdSSR anzugreifen, glaubte ihnen aber bis zum letzten Moment nicht.

Am Abend des 21. Juni 1941 nahmen sowjetische Grenzsoldaten in der Nähe der Stadt Sokal in der Westukraine einen deutschen Überläufer, Alfred Liskow, fest, der den Fluss Bug durchschwommen und sich ergeben hatte. Liskow teilte den Grenzposten mit, dass die deutsche Armee im Morgengrauen des 22. Juni die UdSSR angreifen werden würde.

Stalin wurde informiert und „stimmte sofort zu, die Truppen in Alarmbereitschaft zu versetzen“, schrieb Marschall Georgij Schukow später in seinen Memoiren. „Offensichtlich hatte [er] diese wichtige Information zuvor auf anderem Wege erhalten. Erst am Abend des 21. Juni wurden die Rote Armee und ihre Luftabwehr endgültig in Alarmbereitschaft versetzt. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Angriffskräfte der Wehrmacht bereits in Position, um die Grenze zu überschreiten.

Warum kam der Angriff der Nazis so unerwartet?

Erschwerend kam hinzu, dass einige Armeestäbe die Befehle erst am Morgen erhielten, als der deutsche Angriff bereits begonnen hatte. „Vor dem Morgengrauen des 22. Juni war die drahtgebundene Kommunikation mit den Truppen in allen westlichen Grenzbezirken gestört, und die Hauptquartiere der Bezirke und Armeen konnten ihre Befehle nicht schnell übermitteln“, schrieb der Historiker Wladimir Karpow. „Deutsche Sabotagegruppen, die sich bereits auf unserem Territorium befanden, hatten die Kommunikaionsleitungen zerstört.“

Den Befehlshabern der Einheiten, die um die Erlaubnis baten, das Feuer zu eröffnen, falls deutsche Truppen die Grenze überschreiten sollten, wurde stattdessen gesagt, sie sollten „nicht auf Provokationen eingehen“. Dies war der persönliche Befehl Stalins. Die sowjetischen Truppen mussten sich zurückziehen, und erst um 7:15 Uhr morgens, drei Stunden nach Beginn des deutschen Angriffs, durften die Sowjets zurückschlagen. Zu dieser katastrophalen Verzögerung kam es, weil Stalin den Angriff bis zum letzten Moment als „Provokation“ betrachtete.

Warum wurde die Vorbereitung des Angriffs geheim gehalten?

Nazideutschland begann nach dem Sieg über Frankreich im Juni 1940 mit der Vorbereitung des Angriffs auf die UdSSR. Alle Vorbereitungen wurden unter strenger Geheimhaltung durchgeführt, damit der sowjetische Geheimdienst nichts mitbekam. Die Deutschen bombardierten englische Städte und bereiteten ihre Flotte für die Überquerung der Meerenge von La Manche vor, während sie gleichzeitig ihre Streitkräfte in Osteuropa neu formierten. Am 6. September 1940 gab Alfred Jodl, der Chef des Generalstabs des deutschen Heeres, einen Befehl zur Desinformation der sowjetischen Führung heraus, in dem es unmissverständlich hieß: „In den nächsten Wochen wird die Truppenkonzentration im Osten erheblich zunehmen. Durch diese Umgruppierungen darf Russland keinesfalls den Eindruck gewinnen, dass wir eine Offensive im Osten vorbereiten.“

Gleichzeitig versuchte Hitler, Stalin davon zu überzeugen, dass Deutschland den Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 einhalten würde, der den Frieden zwischen der UdSSR und Deutschland sicherte. Hitler und andere hochrangige Nazi-Befehlshaber wollten den Eindruck erwecken, dass Deutschland zuerst England angreifen würde. Hitler wandte sich sogar an Stalin und bat um militärische Unterstützung gegen das britische Empire, und der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow wurde sogar zu Verhandlungen mit Hitler und Joachim von Ribbentrop, dem deutschen Außenminister, nach Berlin eingeladen. Nach den Verhandlungen war sich Molotow völlig sicher, dass England das erste Ziel Deutschlands werden würde. In der Zwischenzeit unterzeichnete Hitler im Dezember 1940 die Weisung Nr. 21 (Operation Barbarossa) zur Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion. Darin heißt es: „Die deutsche Wehrmacht muss darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen.“

Höchste deutsche Befehlshaber hätten natürlich von den Plänen gewusst, denn sie haben durch ihr Handeln zur Verschwörung beigetragen, schreibt der Historiker Wladimir Lota. Feldmarschall Walther von Brauchitsch behauptete in einer Weihnachtsansprache im Radio im Dezember, dass „die Wehrmacht nur eine Aufgabe hat: England zu besiegen“. Ab Februar 1941 wurden die deutschen Streitkräfte jedoch aktiv in Osteuropa eingesetzt. Gleichzeitig erörterte ihre Regierung weiterhin Möglichkeiten der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der UdSSR. Der sowjetische Auslandsgeheimdienst lieferte jedoch weiterhin Fakten, die auf die Möglichkeit eines bevorstehenden deutschen Angriffs hindeuteten. Stalin schenkte ihnen keinen Glauben.

Warum hielt Stalin den Angriff für eine Provokation?

Stalin traute Winston Churchill nicht, der 1927 im britischen Kabinett eine Kampagne für den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion organisiert hatte. Nun, da er wieder an der Macht war, glaubte Stalin, dass Churchill wahrscheinlich eine neue antisowjetische Verschwörung ausbrütete.

Bereits im Juni 1940 schickte Churchill Stalin eine persönliche Botschaft, in der er vor der zunehmenden Hegemonie Deutschlands über Europa warnte. Stalin hielt dies jedoch für einen Versuch, die UdSSR und Deutschland zu entzweien. Ein Jahr später wiederholte Churchill seine Warnung, nun gestützt auf solide Geheimdienstinformationen, aber ohne Erfolg. Stafford Cripps, der britische Botschafter in der UdSSR, erinnerte sich: „Stalin wollte nichts mit Churchill zu tun haben, und vor allem hatte er Angst, dass Deutschland von seiner Korrespondenz mit Churchill erfahren würde.“

Warnungen kamen auch aus anderen Quellen. Am 17. April 1941 schickte ein in Prag ansässiger Geheimdienstler eine Warnung nach Moskau, dass Deutschland die Sowjetunion in der zweiten Junihälfte angreifen wolle. Sein Bericht beruhte auf Informationen, die er von einem hochrangigen deutschen Offizier in der Tschechoslowakei erhalten hatte, der sich als Chefingenieur der Skoda-Werke ausgab. Die Quelle hatte bereits volles Vertrauen genossen, was sich jedoch als unzureichend erwies: Als der Bericht Stalin übergeben wurde, gab er ihn einfach mit einer scharfen, mit Rotstift gekritzelten Antwort zurück: „Englische Provokation. Aussortieren! Stalin“.

Stalin war sich jedoch darüber im Klaren, dass der Krieg unvermeidlich war. Die UdSSR brauchte noch etwas Zeit, um ihre militärischen Vorbereitungen abzuschließen, und es wäre sicherlich günstiger gewesen, wenn Hitler nicht vor 1942 angegriffen hätte. In den Geheimdienstberichten, die 1940 und 1941 eintrafen, waren viele Termine für den Kriegsbeginn genannt worden, aber war geschehen. Die Mobilisierung einer fast zwei Millionen Mann starken Armee war eine schwerwiegende Entscheidung und Stalin konnte nicht einfach jedem Bericht Glauben schenken und entschied sich daher für das Warten.

Als Deutschland die UdSSR angriff, war Stalin offenbar unfassbar geschockt. Er verbrachte die ersten acht Stunden des Krieges damit, vergeblich zu versuchen, die „Provokation“ nicht eskalieren zu lassen. Er bombardierte das deutsche Außenministerium mit Funksprüchen und ersuchte sogar Japan um Hilfe, indem er es aufforderte, als Vermittler aufzutreten, um die „Krise“ zu beenden. In der Zwischenzeit nahmen die deutschen Truppen, die in sowjetisches Gebiet eingedrungen waren, alle Eisenbahnlinien und Brücken in Richtung der Hauptoffensive in Beschlag, griffen 46 sowjetische Flugplätze an, zerstörten etwa 1.000 Flugzeuge der Roten Armee am Boden und begannen einen schnellen Vormarsch ins Landesinnere auf einer mehr als 2100 km breiten Font – von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Wie sich herausstellen sollte, war Stalins Fehleinschätzung nicht fatal, aber die UdSSR und deren Volk mussten einen großen Preis dafür bezahlen.