Er trug mühelos ein Pferd oder hob ein Klavier mitsamt der an ihm spielenden Pianistin hoch, fing eine aus einer Kanone fliegende 90 Kilogramm schwere Kugel und sprengte um seinen Körper gewickelte Ketten. Der im Russischen Reich geborene Alexander Zass war einer der kräftigsten Männer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und in Großbritannien wurde er direkt als „der stärkste Mann der Welt“ bezeichnet.
Dabei sah Zass nicht wie ein Kraftprotz aus. Er war nur 168 cm groß, wog etwa 75 kg und seine Muskeln waren nicht beeindruckend groß. Ein großer Bizeps ist ebenso ein Indikator für Stärke wie ein großer Magen ein Indikator für eine gute Verdauung ist“, sagte der Athlet. „Es sind die Sehnen, die am Bizeps ziehen und ihn verkürzen. Die Sehnen und ihr Training sind das Geheimnis meiner Stärke. Meine Stärke beruht auf meinen Sehnen.
Lebenslange Leidenschaft
Zass verfiel der Welt der Kraftrekorde schon als Teenager, als er zum ersten Mal eine Zirkusvorstellung in Orenburg besuchte. Als er nach Hause zurückkehrte, begann er intensiv zu trainieren, mit allem, was ihm zur Verfügung stand.
„Nichts beschäftigte mich mehr als der Wunsch, ein wirklich sehr starker Mensch zu werden, jemand, der Dinge tun kann, die normale Sportler nicht hinbekommen“, erinnert sich Zass.
Zass erzielte beeindruckende Erfolge, aber sein Vater hielt das Krafttraining seines Sohnes für ein sinnloses Vergnügen. Er schickte seinen Sohn zu einer Ausbildung als Maschinenschlosser, ohne zu wissen, dass dieser stattdessen eine Stelle bei einem Zirkus angenommen hatte, wo er sich ständig komplexe Tricks aneignete.
Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde Alexander Zass als Kavallerist zur Armee eingezogen. Dort wurde der Kraftmensch berühmt, weil er einmal sein verwundetes Pferd auf den Schultern ins Lager trug.
Nach einer schweren Verwundung geriet der russische Bogatyr in Gefangenschaft. Dank der Bemühungen österreichischer Ärzte gelang es ihm jedoch, nicht nur sein Leben, sondern auch seine Gesundheit zu retten.
Zass wurde in ein Kriegsgefangenenlager verlegt, aus dem er zu fliehen versuchte. Er wurde gefasst und in eine beengte Einzelzelle einer Festung mit einem kleinen vergitterten Fenster gesteckt.
Einzigartige Methode
„Da ich Tag und Nacht gefesselt war - die Wachen nahmen mir die Fesseln nur zweimal am Tag zu den Mahlzeiten ab - fing ich an, psychisch schwach zu werden“, erinnert sich Zass. „Und nach reiflicher Überlegung beschloss [ich], dass die einzige Möglichkeit, meinen körperlichen Verfall aufzuhalten, darin bestand, meine Muskeln auf eine andere Weise zu trainieren, als ich es bei völliger Bewegungsfreiheit tat.“
Angesichts der Bewegungseinschränkung begann Zass, ein System isometrischer Übungen zu entwickeln und zu praktizieren, bei denen die Muskeln angespannt, aber nicht gedehnt oder kontrahiert werden. „Ich merkte schnell, dass man diese Art der körperlichen Stimulation über viele Stunden hinweg durchführen kann. Anstatt Energie zu verbrauchen, wurde sie im Gegenteil nur gesammelt.“
Dem Sportler gelang es nicht nur, sich in Form zu halten, sondern auch Ausdauer zu entwickeln, Bänder und Sehnen zu stärken und ihre Elastizität zu erhöhen. Seine einzigartige Trainingsmethode entwickelte er unter extrem schwierigen Bedingungen. Er musste furchtbare Schmerzen ertragen, weil die Fesseln die Haut bis ins Blut aufrissen.
Am Ende des Krieges wurde die Haftbedingungen von Zass gelockert, was er sofort ausnutzte, um erneut einen Fluchtversuch zu unternehmen. Diesmal mit Erfolg.
„Eiserner Samson“
Alexander Zass schloss sich einer Zirkusgruppe an, mit der er im Nachkriegseuropa auf Tournee ging. Im Jahr 1924 ließ er sich schließlich in Großbritannien nieder.
Wegen seiner unglaublichen Kraft und seiner erstaunlichen Ausdauer gab das Publikum Zass den Beinamen „Eiserner Samson“. Die Presse nannte ihn „den stärksten Mann der Welt“.
Der Athlet trug mühelos ein großes Pferd durch die Arena. Geschickt fing er aus einer speziellen Kanone 90-Kilogramm-Granaten ab, die später durch einen Assistenten ersetzt wurden.
Bei der „Teufelsschmiede“-Nummer legte sich der Athlet auf in die Höhe ragende Nägel. Auf seine Brust wurde ein 500 Kilogramm schwerer Stein gelegt, den seine Assistenten mit Vorschlaghämmern zerschlugen.
Bei einer anderen Nummer wurde der Kraftprotz kopfüber unter die Zirkuskuppel gehoben. Dabei hielt er mit den Zähnen ein Seil fest, an dem ein Klavier mitsamt einer an ihm spielenden Pianistin hing.
Zass konnte auf seinen Schultern eine schwebende Bühne halten, auf der sich mehr als zehn Personen befanden. Der spätere Premierminister Winston Churchill nahm einmal an einem solchen Stunt teil.
Von Gewichten zu Tieren
Der „Eiserne Samson“ trat bis 1954 öffentlich auf. Im Alter von 66 Jahren wurde es für ihn schwierig, das Publikum mit neuen Kraftrekorden zu überraschen.
Zass wechselte zur Tierdressur, der er sich bis 1962 mit Hingabe widmete. Dann kam es zu einem Unfall: Ein Transporter mit Affen geriet im Zirkus in Brand, und Alexander Zass eilte seinen Schützlingen zu Hilfe.
Der starke Mann erlitt schwere Verbrennungen und starb bald darauf im Krankenhaus an einem Herzinfarkt. Seinen lang gehegten Traum, wenigstens noch einmal nach Russland zu reisen, konnte er sich nicht mehr erfüllen.