Warum ist ein „Rjumotschnaja“ eine rein sowjetische Erfindung und wo findet man sie heute?

Vsevolod Tarasevich/MAMM/MDF
Es gibt keine Getränkekarte, keine Speisekarte und keine Kellner. Nur Spirituosen am Tresen und hohe Stehtische.

Diese besonderen Schankwirtschaften waren auf den Ausschank von Spirituosen spezialisiert und servierten belegte Brote als Snack. Mit der Zeit wurden die Rjúmotschnyje (dt.: Schnapsglas, Stamperl),die für die meisten Sowjetbürger zugänglich waren, zu einer Form der „gesitteten Erholung“.

„Männer, die früher in den Hausaufgängen, wie Revolutionäre, Portwein tranken, die sich in dunklen Ecken oder unter abends auf dem Spielplatz trafen, konnten nun in ein dem Anlass angemessenes Etablissement gehen, ein Glas Schnaps trinken und einen gediegenen Snack in Form eines belegten Brotes zu sich nehmen. So etwas hatte man sich früher nicht einmal träumen lassen“, schrieb der Journalist Leonid Repin in seinen Geschichten über Moskau und Moskauer aller Zeiten.

Die ersten Rjúmotschnyje in der UdSSR wurden 1954 in Moskau eröffnet. Laut dem Moskauer Historiker Alexander Waskin war dies ein politischer Schachzug des neuen Staatschefs, des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der KPdSU Nikita Chruschtschow. Er musste schnell die Liebe und Autorität des Volkes gewinnen.

„Die Idee, in Moskau Rjúmotschnyje zu eröffnen, war nicht nur gut – sie war fantastisch! Mit der Schaffung eines Netzes von Trinkstuben zeigten die Partei und die Regierung, dass ihnen die Gesundheit des Volkes und seine gesittete Freizeitgestaltung am Herzen lagen“, schrieb Leonid Repin.

Die Rjúmotschnyje waren dazu gedacht, die Liebhaber von Schnaps und Wodka zu „kultivieren“, damit sie ihn nicht an öffentlichen Orten tranken. Aber andere Einrichtungen wurden zu einem Zufluchtsort für Bürger, die in der Nachkriegs-UdSSR keinen Platz für sich finden konnten.

„An der Ecke Majakowskij- und Nekrassow-Straße [in Leningrad – Anm. d. Red.] gab es einen schrecklichen Schnapsladen voller beinamputierter Invaliden. Von dort drang der Geruch von feuchtem Schafspelz, Elend, Geschrei, Streit, es war eine schreckliche Nachkriegs-Kneipe. Man hatte das Gefühl, dass die Leute hier absichtlich abgefüllt wurden, diese ehemalige Offiziere, Soldaten, Unteroffiziere mit ihren Beinstümpfen und Krücken. Man fand keinen Weg, um diesen Leute mit einer warmen Unterkunft zu versorgen und sie zu beschäftigen – und dies war einer der Auswege“, sinnierte der Schriftsteller Walerij Popow.

Billig und einfach

In den Rjúmotschnyje wurden Wodka, Portwein, Liköre, Wein und Kognak ausgeschenkt. Zu jedem Schnaps wurde ein bescheidener Snack gereicht – ein belegtes Brot mit Wurst, Käse, Ei, Hering oder Sprotten. Zu einer „Portion“ (10 cl) Wodka wurde ein belegtes Brot mit gereicht, auf dem sich vier Sprotten befanden.

„Es gab dabei nur einen Wermutstropfen: Nach einem Glas wollte ich mehr trinken, aber von den belegten Broten hatte ich schon genug. Im Allgemeinen lief es so ab: Stehende Männer, die einen Shot nach dem anderen hinter kippten und aus den belegten Broten den schiefen Turm von Pisa stapelten“, erinnerte sich Repin.

Es gab keine Tische oder Kellner in den Rjúmotschnyje. Die Besucher reihten sich in eine Schlange ein, bekamen von der Bardame ihre unkomplizierte Bestellung ausgehändigt und gingen dann zu einem der Stehtische.

„Das ist ein herrlicher Ort: der Geruch von Wodka und Zigaretten; nur Männer; ohne zwanghafte Trinkerei und bierselige klebrige, schleppende Gespräche. Ein Schluck Wodka, ein Bissen belegtes Brot, gesittet, schnell“, beschrieb der sowjetische Schriftsteller und Publizist Daniil Granin.

Dank der niedrigen Preise konnte es sich jeder Bürger leisten, in eine Rjumotschnaja zu gehen. Sowohl die Preisliste als auch die belegten Brote waren überall in der Sowjetunion gleich, erinnert sich Alexander Waskin.

„Die Preise betrugen ein paar Kopeken, [es herrschte] Ruhe und Ordnung. Alles war still, mit einem Gefühl von Würde. Schnell ein Gläschen getrunken und wieder raus - nach Hause, zu Besuch, in die Philharmonie“, beschreibt der St. Petersburger Historiker Lew Lurje die Verdienste dieser Institution.

Belauscht bei einem Glas Wodka

Im Allgemeinen war kam in diesen Einrichtungen ein anständiges Kontingent zusammen.

„Ein Fabrikarbeiter und ein Journalist, ein Ingenieur und ein Klempner begegneten sich in einer Rjumotschnaja auf Augenhöhe. Es war nicht nur ein Treffpunkt von Männern mit gleiche Interessen, sondern auch ein Ort, der verschiedene Menschen anzog. Dort war es möglich, soziologische Untersuchungen durchzuführen und die Struktur der Gesellschaft zu studieren“, meint Alexander Waskin.

Und der Staat hat diese Gelegenheit ergriffen. Wie Lew Lurje feststellt, wurden in den 1950er Jahren fast die Hälfte der politischen Verfahren wegen Freigeistigkeit in den Trinkstuben eingeleitet.

„Die Rjumotschnaja blieb ein Zufluchtsort für qualifizierte, intellektuelle Arbeiter, die das soziale Gesicht der Stadt prägten: seriöse, gut verdienende Männer mit solchen Freizeitbeschäftigungen wie Angeln, Ausflüge ins Kirow-Stadion, Urlaub im Betriebs-Erholungsheim oder im Schrebergarten. Diese Etablissements für Besucher, die ihre Arbeitsschicht beendet hatten, spielten die gleiche Rolle wie die Pubs in England“, schreibt er. 

Die Rjúmotschnyje heute

1985 initiierte Michail Gorbatschow, Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, eine Antialkoholkampagne. Die aktive Phase dauerte zwei Jahre. Das Land reduzierte die Produktion und den Verkauf von Spirituosen und Wein. Die Getränkeläden litten unter diesen Maßnahmen.

Der nächste Schlag für sie war der Zusammenbruch der Sowjetunion. Mit der Entstehung eines Restaurantmarktes im Land und dem Aufkommen neuer Formate der Gastronomie wurde den Rjúmotschnyje die Rolle von „nostalgischen“ Einrichtungen zugewiesen.

„Die Rjúmotschnyje wurden nicht umgebaut, sie verschwanden aber auch nicht. Sie blieben, wie die Rostral-Säulen, der Fußballverein Zenit und die Weißen Nächte, ohne ihre Funktion zu ändern. <...> Das Durchschnittsalter der Besucher liegt nahe am Rentenalter, fast alle diese Menschen wurden von Kindesbeinen an mit dem einfachen und rauen Genre der Rjumotschnaja großgezogen. Alle, die zu viel getrunken haben, sind längst gestorben – sie haben die 1990er Jahre nicht überlebt. Übrig geblieben sind abgehärtete Veteranen, die ihre Norm kennen und an ,gesittetesʼ Trinken gewöhnt sind“, charakterisiert Lew Lurje die Situation in St. Petersburg.

Er betont, dass die Rjúmotschnyje in der nördlichen Hauptstadt ihre Popularität bewahrt haben: Es gibt hier mehr von ihnen als in Moskau, so Lurje, aber es ist schwierig für die alten Lokale, ein neues Publikum zu gewinnen.

Rjúmotschnyje eignen sich nicht für eine Stilisierung. Es hat mehrere Versuche gegeben, etwas in diesem Genre für ein jüngeres und zahlungskräftigeres Publikum zu schaffen. Sie sind alle gescheitert. Junge Leute trinken viel weniger als ihre Väter und Großväter, und sie sind nicht süchtig nach Wodka. Einheimische Hipster trinken lieber einen Shot in einer trendigen Bar irgendwo auf der Dumskaja oder Fontanka. Aber echte Kenner des Genres zieht es nicht in die neuen Etablissements – sie sind zu teuer. Es gibt sie noch, aber sie sterben langsam aus, zusammen mit ihren Kunden, wie dicke Zeitschriften oder eine Partie Domino im Innenhof“, schließt Lurje, der in St. Petersburg lebt.

In Moskau, St. Petersburg oder jeder anderen Stadt in Russland ist es kein Problem, eine Rjumotschnaja zu finden: Lokale dieses Formats werden weiterhin eröffnet. Allerdings halten sich nicht alle Besitzer an die Prinzipien dieser Kneipen „alter Schule“ – demokratische Atmosphäre, schlichte Einrichtung und niedrige Preis. Und auch wenn sie in ihrem Stil in Bezug auf das Interieur und die Speisekarte an die UdSSR erinnern, so entspricht eine Neu-Rumotschnaja dennoch den Realitäten moderner Restaurants.

Das authentische Erbe der sowjetischer Rjúmotschnyje versteckt sich unter unscheinbaren Schildern, in Kellern und wird von Leuten besucht, die einander kennen. Es ist billig und pragmatisch, ganz und gar nicht modisch, aber authentisch. Bis auf die Tatsache, dass normale Tische und Stühle aufgestellt wurden.

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