Was wurde mit Visitenkarten in Russland ausgedrückt?

Russia Beyond (Vladimir Makovsky. A literary evening 1866, Tretyakov Gallery; Archive photo)
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Kultur der persönlichen Besuche in Russland den Punkt der Absurdität erreicht – selbst absolut formelle Besuche bei Verwandten und Freunden konnten mehrere Tage dauern. Und die Visitenkarten waren eine Rettung.

„Moskau für längere Zeit zu verlassen, war für Marja Iwanowna angesichts ihres umfangreichen Bekanntenkreises kein Spaß: Man musste sich von allen verabschieden, um niemanden zu beleidigen“, schrieb der Beamte Dmitrij Runitsch im 19. Jahrhundert über seine betagte Verwandte. „Am Donnerstag um 6 Uhr stieg Marja Iwanowna in eine Kutsche und machte sich mit einem Register in der Hand auf den Weg zu den Besuchen; an diesem Tag erledigte sie elf Besuche, am Freitag vor dem Mittagessen zehn, nach dem Mittagessen 32, am Samstag zehn, insgesamt also 63, und ,die etwa zehn engsten Verwandtenʼ, schrieb sie danach, ,bleiben als Nachspeise. Und zwei Tage später begannen die Gegenbesuche: An einem Nachmittag kamen die Fürstinnen Golizyna, Schachowskaja, Tatischtschewa, Gagarina und Nikolewa zu ihr. Sie bekam es mit der Angst zu tun: ,Will sich denn die ganze Hundertschaft von mir verabschieden?ʼ, fragte sie sich und befahl zu antworten, dass sie nicht zu Hause sei.“

In einer Kutsche in der Nähe des Kremls

Für den Moskauer und St. Petersburger Adel wurden formelle Besuche bei Verwandten und Bekannten zur täglichen Pflicht. Abreise und Ankunft in der Stadt, Geburtstagsfeiern, große Feiertage, Hochzeiten und Beerdigungen – all diese Ereignisse erforderten einen formellen Besuch. Und dann musste ein Gegenbesuch akzeptiert werden. Wer diese Regel missachtete, schloss sich selbst aus der angesehenen Gesellschaft aus – man konnte nicht auf eine Beförderung oder eine günstige Heirat hoffen.

Der lästige Brauch erschien Ausländern wild, und einige, wie die Irin Martha Wilmot, waren sogar empört. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam daher mit der Mode für alles Englische auch die Kultur der Visitenkarten nach Russland.

„Schreib mich auf“

Die Karten wurden damals Visitenbilletts genannt, und für sie standen in den Fluren und Dielen der Häuser von Adligen silberne Tabletts oder teure Schalen. Normalerweise gab es zwei davon: eine für die Karten, die persönlich mitgebracht wurden, die andere für die Karten, die durch Bedienstete übergeben wurden. Schließlich machte es einen großen Unterschied, ob der Besucher selbst kam oder lediglich einen Diener schickte. Es gab auch ungewöhnliche Orte für diese Karten – im Moskauer Haus eines Adligen aus einer alteingesessenen Familie konnte man von einem ausgestopften Bären mit offenem Maul und einem Tablett für Visitenkarten in seinen Pfoten empfangen werden.

Ein Marmortablett für Visitenkarten

Jeder adlige Herr und jede adlige Dame im frühen 19. Jahrhundert trug ein Päckchen mit Visitenkarten bei sich. Wenn sie zu Besuch kamen, meldeten sie sich nicht sofort an - der Butler kam heraus und bekam eine Visitenkarte überreicht. Die Visitenkarten der Damen waren größer und aufwändiger verziert. Die Visitenkarten der Männer hatten üblicherweise die Größe einer heutigen Bankkarte oder Zigarettenschachtel. Die Visitenkarten der verheirateten Männer waren bescheidener und kleiner als die der alleinstehenden Männer.

Russische Visitenkarten aus dem 19. Jahrhundert

Der Name des Inhabers oder Besitzers einer Visitenkarte wurde darauf geschrieben, ebenso wie sein Titel, sein Rang oder seine Position: Ärzte und Wissenschaftler schrieben Doktor und gaben ihren Abschluss an, Militärs – ihren Dienstgrad, Beamte – ihren Rang. Manche Leute hatten zwei Arten von Karten: eine mit einer Adresse, die andere mit einem leeren Feld, auf das man etwas schreiben konnte – eine Verabredung, eine Einladung zum Essen oder ins Theater.

Wenn die Person, die besucht werden sollte, zu Hause war, brachte der Diener die Karte zu ihr und der Gastgeber entschied, ob er den Gast akzeptierte oder sich auf eine Unpässlichkeit berief. Wenn der Gastgeber für den Empfang nicht bereit war, wurde die Visitenkarte auf dem Tablett zurückgelassen – genau wie wenn der Gastgeber nicht zu Hause war.

Der frischgebackene Ordensträger von Pawel Fedotow, 1846

Wenn es sich um einen Besuch bei jemandem von höherem Rang oder gesellschaftlichem Ansehen handelte, galt es als unhöflich, eine Karte zu hinterlassen. Wenn Diener einen höheren oder niederen Adeligen – einen Grafen oder einen Fürsten – besuchen wollten und dieser nicht zu Hause war oder sie nicht empfing, schrieb der Butler die Namen der Besucher in ein spezielles Buch. Es gab einige Kuriositäten. Der Literat Peter Wjasemskij erinnerte sich: „Als Karamsin zum Historiographen ernannt wurde, ging er zu Besuch zu jemandem und sagte zu dem Diener: ,Wenn ich nicht empfangen werde, dann schreibe mich auf!‘ Als der Diener zurückkam und sagte, dass der Herr des Hauses unpässlich sei, fragte Karamsin ihn: ,Hast du mich aufgeschrieben?‘ ,Ja, das habe ich.‘ ,Was hast du aufgeschrieben?‘ ,Karamsin, Graf der Geschichte‘.“

Die Regeln der Kommunikation per Visitenkarte

Natürlich verachtete der alte Adel Visitenkarten. Vor allem solche, die von Dienern mitgebracht wurden. Das ist einfach unerhört! Das fährt der Lakai mit der Kutsche vor das Fenster und wirft die Karte dem alteingesessenen russischen Adeligen zu“, ärgerten sich, nach den Erinnerungen des russischen Musikers Nikolai Makarow, die alte Tanten.

Wohnzimmer in den Appartements der Gräfin Anna Scheremetewa am Boulevard Poissonnière in Paris, unbekannter Maler, 1842

Doch nach der Krönung von Nikolaus I. im September 1826 änderte sich alles. Nikolaus Pawlowitsch und seine Frau Maria Fjodorowna waren junge Stars der europäischen Salons, und ihrer Krönung wohnten Hunderte Vertreter der französischen und englischen Schickeria bei, deren Visitenkarten sehr begehrt waren und nicht als peinlich angesehen wurden. Danach war die Kultur der Visitenkarten in Russland endgültig etabliert und hielt sich bis 1917.

Visitenkarten von russischen Schriftstellern: Alexej Tolstoj, Fjodor Sollogub, Igor Sewerjanin, Anton Tschechow

Es war üblich, den ersten Besuch persönlich zu absolvieren. Anschließend konnte man sich anmelden oder seine Karte hinterlassen. Es war höflich, auf eine Karte mit einer Karte zu antworten – wenn dies nicht der Fall war oder die Karte in einem Papierumschlag geschickt wurde, bedeutete das, dass es besser war, dieses Haus nicht mehr zu besuchen.

Wenn eine Karte hinterlassen wurde, ohne den Hausherren gesehen zu haben, musste sie „geknickt“ werden. Das bedeuteten die „Knicke“:

- obere rechte Ecke: Ich war persönlich da

- obere linke Ecke: Glückwunsch

- untere linke Ecke: Herzliches Beileid

- untere rechte Ecke: Abschied.

Wenn keine der Ecken geknickt war, bedeutete das, dass die Karte korrekt durch den Diener übergeben wurde. Natürlich begann man sehr bald, auch „geknickte“ Karten mit Dienern zu verschicken. Fürst Sergej Trubezkoj, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebte, erinnerte sich: „Normalerweise übergaben wir, wenn wir abends weggingen, dem Portier (mit einem Rubel [Trinkgeld]) im Voraus geknickte Karten, oder einer von uns nahm die Karten mehrerer Freunde mit: Der Brauch, ungeknickte Karten zu verschicken oder zu hinterlassen, war damals in Moskau nicht üblich.

Blick auf den Ochotnyj Rjad in Moskau

Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der Brauch, Karten zu hinterlassen, der zumindest den Anschein von Höflichkeit wahren sollte, zu einem absolut mechanischen Vorgang entwickelt, der von Bediensteten ausgeführt wurde. „Am Neujahrstag und in der Karwoche ist der Verbrauch an Visitenkarten am größten“, erinnerte sich Michail Sagoskin. „Lakaien auf Kutschen, zu Pferd und zu Fuß streifen durch die ganze Stadt. [...] Die Verteiler der Karten fanden jedoch ein Mittel, um ihre Arbeit zu erleichtern: Sie haben ihre Treffpunkte, der wichtigste ist in Ochotnyj Rjad; dort vergleichen sie ihre Listen und tauschen Visitenkarten aus. Natürlich passieren ab und zu Fehler. Manchmal bekommen Sie die Karte eines Barons, den Sie gar nicht kennen, oder Sie sind gezwungen, einer Person zu gratulieren, die Sie ihnen höchst unangenehm ist.“

Und doch war zu allen Zeiten im Russischen Reich ein persönlicher Besuch am respektvollsten. Manchmal konnte eine einfache Karte, die einer wichtigen Person hinterlassen oder geschickt wurde, die Karriere eines unglücklichen Besuchers für immer beenden.

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