Am 24. August 1553 setzten die Engländer erstmals ihren Fuß auf russischen Boden. Das Schiff Edward Bonaventure gehörte zur englischen Handelsgesellschaft Mystery and Company of Merchant Adventurers for the Discovery of Regions, Dominions, Islands, and Places unknown, und sein Kapitän war Richard Chancellor. Das Schiff lief in die Mündung der nördlichen Dwina ein und legte in der Nähe des Nikolo-Korelskij-Klosters an, 35 Kilometer von Archangelsk entfernt. Von dort aus fuhr Chancellor nach Сholmogóry und dann nach Moskau, wo er Iwan dem Schrecklichen einen Brief von König Edward VI. übergab. Von diesem Moment an erlaubte der Zar den Engländern, in Russland Handel zu treiben.
Im Jahr 1555 hatten die Briten ihr eigenes Büro in der Hauptstadt – den Englischen Hof und aus der Mystery and Company of Merchant Adventurers wurde die Muscovy Company.
Englische Fabriken entstanden in Сholmogóry, Wologdá und Moskau. Im Jahr 1569 wurden der Gesellschaft maximale Rechte gewährt:
- zollfreier Handel im gesamten Moskauer Reich,
- Handel mit dem Nahen Osten über Russland,
- die Eröffnung von Eisen- und Seilfabriken im Land,
- der Umlauf englischer Münzen in Moskau, Nowgorod und Pskow.
Der russische Historiker Nikolai Kostomarow schrieb darüber in seinem Buch Überblick über den Moskauer Staatshandel im 16. und 17 Jahrhundert. Die Engländer exportierten aus dem russischen Norden aktiv Flachs, Hanf, Seile, Teer, Pech, Talg, Schmalz, Mastholz, Pelze, Wachs, Honig, Häute, Leder, Pottasche, Öl und Kaviar.
Iwan der Schreckliche wollte England zu seinem strategischen Partner machen, deshalb war er auch so gastfreundlich. Mit dem Beginn des Livländischen Krieges (1558-1583) versorgten die Schiffe der Muscovy Company Russland mit Salpeter, Schwefel, Blei und Zinn; englische Ingenieure und Ärzte kamen ins Land.
Und 1570 umwarb Iwan sogar Königin Elisabeth. Auf diese Weise versuchte er, im Falle einer Niederlage im Livländischen Krieg politisches Asyl in London zu erhalten. Außerdem beabsichtigte er, ein Militärbündnis mit den Engländern zu schließen, aber Elisabeth ignorierte diesen Vorschlag ebenso wie die Heiratsvermittlungen.
Nach dem Livländischen Krieg war es auch anderen Ausländern erlaubt, im Norden Russlands Handel zu treiben. Aber die Engländer durften auf ihrem Weg nach Persien und China nicht mehr über russisches Gebiet fahren. Dennoch hatte die Muscovy Company bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts das Recht auf weitgehenden zollfreien Handel.
Eine unruhige Zeit mit neuen Möglichkeiten
Schon unter Iwan dem Schrecklichen versorgten Agenten der Muscovy Company in Russland den englischen Hof mit militärischen und wirtschaftlichen Aufklärungsdaten: Sie rekrutierten russische Kaufleute und Beamte, bestachen oder erpressten sie, schrieb der sowjetische Historiker Wiktor Wirginskij.
Die Zeit der Unruhen (1598-1613) kam und brachte dynastische Krisen, Volksaufstände, polnische und schwedische Interventionen. All dies eröffnete den Engländern neue Möglichkeiten, ihren Einfluss in Russland auszuweiten. So sicherte sich der Leiter der Muscovy Company, John Meyrick, persönlich das Versprechen, die Rechte seines Unternehmens zu erweitern, zunächst vom falschen Dmitrij I. (dem selbsternannten Sohn Iwans des Schrecklichen) und später von dessen Thronfolger Wassilij Schujskij.
Als 1611 schwedische Truppen, die von Schujskij angeheuert worden waren, um seinen Gegner, den Falschen Dmitrij II., niederzuwerfen, die Ländereien von Nowgorod (die nordwestlichen Gebiete des heutigen Russlands) einnahmen, fanden die Briten den Moment günstig, um den russischen Norden zu „erobern“.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1612 wurde eine Depesche mit einer detaillierten Beschreibung der Ereignisse in Russland nach London geschickt. Der wahrscheinliche Verfasser des Dokuments war Kapitän Thomas Chamberlain.
Ein Plan zur Errichtung eines englischen Protektorats
In dem Entwurf hieß es, dass im unberührten Norden „die Menschen bereit und sogar gezwungen sind, sich in die Hände eines Souveräns zu begeben, der sie beschützen kann, und sie sind bereit, sich der Herrschaft eines Fremden zu unterwerfen, da von ihren eigenen Souveränen niemand mehr übrig ist“.
Im Übrigen hatten einige Vertreter der nordrussischen Regionen bereits im Sommer 1611 entsprechende Verhandlungen mit einem Agenten der englischen Kompanie (bei dem es sich offensichtlich um Meyrick handelte) geführt.
Die Verfasser des Projekts versicherten König Jakob I., dass er „ausreichend Grund habe, die Verteidigung dieses Volkes und das Protektorat über sie in die eigenen Hände zu nehmen, und zwar zu Bedingungen, die die Handelsfreiheit, über die wir bereits verfügen und weiterhin verfügen werden, sichern und schützen können“. Sie verlangten, dass eine bevollmächtigte Person in den Norden geschickt wird, um mit den Einheimischen einen Vertrag über die Souveränität oder das Protektorat auszuhandeln.
„Wenn Eurer Majestät die Souveränität über den Teil Moskowiens angeboten würde, der zwischen Archangelsk und der Wolga liegt, zusammen mit einer Route entlang dieses Flusses bis zum Kaspischen oder Persischen Meer, oder zumindest die Verwaltung und das Protektorat darüber, mit der Einführung von Handelsfreiheit und -garantien, wäre dies das größte und glücklichste Angebot, das jemals einem König unseres Landes gemacht wurde, seit Columbus Heinrich VII. die Entdeckung der Westindischen Inseln angeboten hat“, heißt es in dem Dokument.
Um die Ordnung zu sichern, schlugen die Verfasser vor, eine englische Armee in diese Gebiete zu schicken, die von der russischen Bevölkerung unterhalten werden sollte. Und die „Betreiber“, die Waren und Lebensmittel anhäufen sollten, wären lokale Vertreter englischer Unternehmen.
Der Plan, der drei Jahrhunderte lang geheim blieb
Während das Dokument von König Jakob geprüft wurde, begann man in England Truppen von „Freiwilligen“ aufzustellen, die bereit waren, das Moskauer Zarenreich gegen die polnischen Invasoren zu unterstützen. In Wirklichkeit versuchten sie, bis nach Archangelsk vorzudringen. Auf Anraten von Fürst Dmitrij Poscharskij, dem Anführer der Volksmiliz, die sich mit den Polen auf russischem Territorium auseinandersetzte, wurden die englischen Freiwilligen nicht in den Norden gelassen. Im Oktober 1612 konnten die polnischen Eindringlinge aus Moskau vertrieben werden und im Januar 1613 bestieg Michail Romanow den Thron.
Als im Mai 1613 John Meyrick und sein Kollege in der Muscovy Company, William Russell, in den Rang außerordentlicher königlicher Gesandter erhoben wurden und den Auftrag erhielten, mit den Bewohnern des russischen Nordens zu verhandeln, hatte ihre Mission bereits ihren Sinn verloren. Michail Romanow war bereits im ganzen Land, auch in den nördlichen Gebieten, als Souverän anerkannt worden.
Deshalb beeilte sich Meyrick, der sich seit dem Sommer in Archangelsk aufhielt, dem neuen Zaren zu versichern, dass die Gerüchte über die englischen Absichten, ein Protektorat zu errichten, unwahr seien. Es gelang ihm, seinen Ruf als Diplomat aufrechtzuerhalten und er vermittelte sogar den Frieden von Stolbowo im Krieg zwischen Russland und Schweden (1610-1617). 1621 verließ Meyrick Russland für immer und 1629 wurde er Geschäftsführer der Muscovy Company.
1649 beschränkte Zar Alexej Michailowitsch Romanow die Rechte der Muscovy Company auf den Handel in Russland bis zu den Grenzen von Archangelsk. Die Gesellschaft verlor ihre Monopolprivilegien 1698 im Zuge der Reformen von Peter dem Großen.
Von den Plänen der Briten, die Zeit der Unruhen auszunutzen und sich den russischen Norden zu unterwerfen, war in der Öffentlichkeit bis 1914 nichts bekannt. Chamberlains Projekt wurde von der russischen Archivarin Inna Ljubimenko in britischen Archiven gefunden. Im Jahr 1914 veröffentlichte sie den gesamten Text in dem Artikel A Project for the Acquisition of Russia by James I.