An einem unglücklichen Tag im Jahr 1921 ereignete sich eine Tragödie, die Lew Pontrjagin, einen gewöhnlichen sowjetischen Schuljungen traf. In den Händen des dreizehnjährigen Jungen explodierte ein defekter Spirituskocher, den er zu reparieren versucht hatte. Infolgedessen erblindete der Teenager vollständig.
Doch der Junge wollte nicht aufgeben. Er überlebte nicht nur, sondern schaffte es auch, ein herausragender Wissenschaftler von Weltruhm zu werden.
Entscheidung fürs Leben
Die ersten Jahre nach der Tragödie waren die schwierigsten in Lews Leben. Es schien, als könne er die Schule nie wieder besuchen, aber Mitschüler kamen ihm zu Hilfe. Sie lasen ihm vor, was der Lehrer an die Tafel schrieb, und halfen ihm bei den Hausaufgaben.
Der Junge stand vor der Frage, womit er sein Leben verbringen sollte. Er lernte Klavier spielen, versuchte sich im Handwerk. Doch seine wahre Leidenschaft galt der Mathematik.
Seine Mutter, eine einfache Schneiderin namens Tatjana Pontrjagina, war dabei eine große Hilfe, ihm die Wissenschaft näher zu bringen. „Sie zeigte große Selbstbeherrschung und Selbstaufopferung, als sie mir half, Schwierigkeiten zu überwinden“, erinnerte sich Pontrjagin. „Da sie keine systematische Ausbildung hatte, half sie mir bei der Vorbereitung des Unterrichts, las mir Bücher nicht nur über die humanitären Bereiche des Lehrplans vor, sondern auch über Mathematik, die sie überhaupt nicht kannte. Die Bücher über Mathematik gingen weit über den Lehrplan hinaus.“
Die Mutter widmete sich ganz ihrem Sohn. Täglich las sie ihm Dutzende von Seiten mit mathematischen Formeln vor, die er auswendig lernte.
Am schwierigsten war es für sie, Lew die mathematischen Zeichen zu erklären, die er nicht sehen konnte. Für jedes dieser Zeichen erfand sie spezielle, für das Kind verständliche Bezeichnungen. Der zukünftige Wissenschaftler nutzte nie in seinem Leben die speziell für Blinde entwickelte Brailleschrift.
1925 schloss Pontrjagin die Schule mit einer Goldmedaille ab und trat in die Moskauer Universität, Fakultät für Physik und Mathematik, ein. In den Vorlesungen schrieb er natürlich nichts auf, sondern prägte sich alles ein. Nachts, als er im Bett lag, dachte der junge Mann über das Gehörte nach.
Auf die Universität folgten die Aspirantur und eine Lehrtätigkeit. Bereits im Alter von 27 Jahren habilitierte Pontrjagin zum Doktor der physikalischen und mathematischen Wissenschaften.
Das Leben in vollen Zügen genießen
In jeder Phase seines Lebensweges wurde Lew von seiner Mutter unterstützt, ohne die er kaum viel hätte erreichen können. Auch seine Klassenkameraden, Kollegen, Assistenten, Freunde und Bekannte halfen ihm. Der Mathematiker hörte sich alles an und prägte es sich ein. Er entwickelte ein phänomenales Gedächtnis und behielt riesige Mengen an Informationen in seinem Kopf.
Pontrjagin benutzte eine Schreibmaschine, um seine wissenschaftlichen Arbeiten aufzuzeichnen. Dabei ließ er absichtlich eine Lücke, in die später nach seinen Vorgaben hin die mathematischen Formeln geschrieben wurden.
Später begann Pontrjagin, ausgiebig ein Tonbandgerät zu nutzen. Seine Mutter oder seine Assistenten lasen wissenschaftliche oder belletristische Literatur vor und zeichneten dies auf einem Tonband auf, das Pontrjagin sich danach anhörte. Er selbst diktierte darauf seine Arbeit, die er dann an Assistenten zur Transkription weitergab.
Der Wissenschaftler bemühte sich, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Er benutzte praktisch keine besonderen Hilfsmittel, ging ohne Stock und ohne die Hilfe anderer Menschen. Aus diesem Grund stürzte er oft, und sein Gesicht wies immer wieder Schürfwunden und Kratzer auf.
Pontrjagin lernte sogar tanzen, Ski fahren und Schlittschuh laufen. Darüber hinaus war der Wissenschaftler zweimal verheiratet.
Großer Mathematiker
Lew Pontrjagin verfasste etwa 300 Veröffentlichungen, darunter mehrere Monografien und Lehrbücher. Für seinen Beitrag zur Wissenschaft erhielt er eine Reihe sowjetischer Staatspreise und andere hohe Auszeichnungen, wurde Ehrenmitglied der Internationalen Akademie für Astronautik, der London Mathematical Society und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sowie Ehrendoktor der Universität Salford (Großbritannien).
Dem Wissenschaftler ist es zu verdanken, dass Begriffe wie Pontrjaginsches Maximumprinzip, Pontrjaginsche charakteristische Klassen, Pontrjaginsche Dualität, Pontrjaginsches Quadrat, Andronow-Pontrjagin-Kriterium und andere in der Wissenschaft Bedeutung erlangten.
Er trug maßgeblich dazu bei, dass das zweifelhafte Projekt, eine Reihe sibirischer Flüsse in die Trockengebiete Zentralasiens zu leiten, nie realisiert wurde. Der Mathematiker berechnete die ungünstigen Folgen dieses Schrittes und schickte einen persönlichen Brief an den Staatschef Michail Gorbatschow.
Ein Asteroid und eine Straße in Moskau wurden zu Ehren von Akademiemitglied Pontrjagin benannt, und es wurden zwei Büsten aufgestellt, von denen sich eine in der Russischen Staatsbibliothek für Blinde befindet.
„Warum hatte Lew Semjonowitsch die Zeit für so viele Aktivitäten?“, fragte sich Pontrjagins Kollege, der Mathematiker Igor Schafarjewitsch. „Ich glaube, weil er sich nie fragte, ob er genug Kraft für irgendetwas hatte. Er nahm sich eine Sache vor, und die Kraft kam von selbst. Er ging ständig an die Grenzen des Möglichen.“